Spangen für alle?!

Datum: Freitag, 27. Oktober 2017 14:51

Vom Sinn und Unsinn der Zahnspange.

Wenn Babys erster Zahn durchbricht, ist das einer von vielen Meilensteinen im ersten Lebensjahr. Rückblickend dauert es nicht lange, da verlässt uns derselbe ersehnte Zahn schon wieder, um Platz zu machen für die Bleibenden. Mit dem Zahnwechsel stellen sich viele Eltern die Frage: Was kommt jetzt nach? Die Hoffnung vermutlich aller Eltern und Kinder: Ein strahlend schönes, ebenes, weißes Hollywood-Lächeln. Das aber hat die Natur den wenigsten Menschen mitgegeben. Nach Schätzungen haben nur 5 Prozent der Bevölkerung ein nach medizinischen und ästhetischen Kriterien perfektes Gebiss. Doch was heißt das für die restlichen 95 Prozent? Wie schief dürfen Zähne stehen, ab wann ist der Besuch beim Kieferorthopäden sinnvoll und wann kann man sich die sehr lange und sehr teure Behandlung auch sparen?

Wir haben recherchiert und bei Kieferorthopäden und Wissenschaftlern nachgefragt. Einfache Antworten gibt es nicht. Wann eine Zahnspange tatsächlich notwendig ist, welches Modell man wählen und mit welchen Kosten man rechnen sollte – darauf gibt es ganz unterschiedliche Antworten. Eine für Eltern und erst recht für Kinder verzwickte Situation. Wir wollen auf den folgenden Seiten Licht ins Dunkel bringen.

Statistiken
Verlässliche Zahlen zu Zahnspangenträgern zu bekommen, ist schwierig. Wie viele Kinder und Jugendliche in Deutschland eine Spange tragen, lässt sich nur ungefähr ermitteln. Zum einen erfasst das Bundesgesundheitsministerium die mit den gesetzlichen Krankenkassen abgerechneten Behandlungsfälle beim Kieferorthopäden, Privatpatienten fehlen in dieser Statistik. Aufgeführt werden nur die neu begonnenen Behandlung pro Jahr. Die Statistik sagt nicht, wie viel Prozent der Kinder und Jugendlichen eine Spange tragen, aber sie verdeutlicht zumindest die langfristige Entwicklung. 

Demnach gehen die Zahlen seit Jahren leicht zurück. 2015 wurden in Deutschland knapp 618.000 kieferorthopädische Behandlungen begonnen, etwa halb so viele wie 2001, dem Jahr vor der KIG-Einführung. Das sogenannte KIG (kieferorthopädische Indikationsgruppen)-Schema unterteilt Zahnfehlstellungen in 5 Klassen, nur noch Kinder mit starker Fehlstellung werden seitdem auf Kassenkosten behandelt.

Zahlen liefert auch die Deutsche Mundgesundheitsstudie, durchgeführt vom Institut der Deutschen Zahnärzte. Die repräsentative Studie ist seit 1989 fünf Mal erschienen, zuletzt 2015. Da allerdings wurden nicht mehr die kieferorthopädischen Behandlungen erhoben. In den vorhergehenden Studien von 1997 und 2005 zeigte sich, dass gut jedes zweite Kind in kieferorthopädischer Behandlung ist oder diese geplant ist. Die Zahlen waren von 1997 zu 2005 leicht rückläufig, aber noch immer hoch.

Ganz gleich, welche Statistik man zu Rate zieht: Sie alle weisen auf eine relativ hohe Behandlungsquote hin. Je nach Lesart tragen zwischen 45 und 65 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine Zahnspange. Und auch wenn es kaum internationale Erhebungen zum Thema gibt, so deutet doch Einiges daraufhin, dass Deutschland einsame Spitze ist. In kaum einem anderen Land tragen so viele Kinder eine Zahnspange. In Schweden und Norwegen sind es knapp ein Drittel der Jugendlichen, in Südeuropa spielt Kieferorthopädie kaum eine Rolle. Nur in den USA und in den Niederlanden gibt es wohl ähnlich hohe Zahlen wie bei uns in Deutschland. Sind Werte über 50 Prozent zu viel? Viel zu viel, sagen Kritiker. Einer der bekanntesten ist Dr. Henning Madsen, selbst Kieferorthopäde. Bei einer so hohen Behandlungsquote stelle sich automatisch die Frage: Brauchen diese Kinder und Jugendlichen wirklich alle eine Zahnspange? Nein, sagt Madsen. Der Hauptnutzen kieferorthopädischer Behandlungen sei eine ästhetische Verbesserung. Ein gesundheitlicher Nutzen sei mit den meisten kieferorthopädischen Behandlungen dagegen nicht verbunden. Würde man das KIG-Schema streng anwenden, hätte nur noch ein Drittel jedes Jahrgangs Leistungsanspruch an die gesetzliche Krankenversicherung für eine Zahnspange. Das heißt im Umkehrschluss: Jede zweite derzeit eingesetzte Zahnspange wird unter Umgehung des KIG eingesetzt und ist medizinisch gesehen überflüssig, so Madsen.

Auf die harsche Kritik und die hohen Behandlungszahlen wurde reagiert. 2002 wurde eben jenes KIG-Bewertungssystem eingeführt. Die kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) sollen die medizinische Behandlungsnotwendigkeit von rein kosmetischen Behandlungswünschen abgrenzen. Ziel ist, dass die gesetzlichen Kassen tatsächlich nur die Kosten für jene Fälle übernehmen, in denen ein medizinischer Behandlungsgrund vorliegt. Das ist nur begrenzt gelungen. Zwar sind die Behandlungszahlen im Vergleich zu den 19980er und 1990er Jahren tatsächlich zurückgegangen. Damals hatte fast jedes Kind eine Zahnspange. Nach der KIG-Einführung sanken die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für kieferorthopädische Leistungen zunächst. Doch mittlerweile haben wir wieder den Wert aus dem Jahr 2000 erreicht: 2015 lagen die Ausgaben bei knapp 1,1 Mrd. Euro, fast genauso hoch wie vor der KIG-Einführung. Der GKV-Spitzenverband erklärt dazu auf Nachfrage: „Im selben Zeitraum sind die Ausgaben pro Behandlungsfall dagegen stark gestiegen. Das liegt zum einen daran, dass der Punktwert für die Abrechnung der kieferorthopädischen Leistung anstieg (allgemeine Kostensteigerung), zum anderen hat sich der Anteil der besonders schwierigen Behandlungsfälle erhöht. Durch die KIG kam es zu einer erwarteten Verschiebung in Richtung teurere Behandlungen. Wie schon erwähnt, sollte durch die Einführung der KIG eine trennscharfe Grenzziehung greifen: Befunde mit eindeutiger, medizinischer Behandlungsnotwendigkeit sollten von jenen mit nicht ausreichend begründeter Behandlungsnotwendigkeit klar unterscheidbar werden. Als Effekt war zu erwarten, dass nur die wirklich behandlungsbedürftigen schwierigen, aber insgesamt auch kostenintensiveren Behandlungsfälle zu Lasten der GKV erbracht werden können. Ein weiterer Grund für die Steigerung der Fallkosten sind längere, kieferorthopädische Behandlungen, die über die ursprünglich beantragte Zeit hinausgehen. Deren Anzahl hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht.“


Wann braucht mein Kind eine Zahnspange?

Die Kostenübernahme der Krankenkassen beruht auf einem Urteil des Bundessozialgerichts im Jahr 1972. Seitdem gelten Zahnfehlstellungen als Krankheit, zuvor war Kieferorthopädie eine reine Privatleistung. Seit der Neuregelung stiegen auch die Zahlen kieferorthopädischer Behandlungen lange Zeit an. Erst mit Einführung des KIG-Schemas 2002 gingen sie wieder langsam zurück.

Die Mehrzahl der Kieferorthopäden sagt, dass Zahnfehlstellungen zu gesundheitlichen Problemen führen können – die Bedeutung liegt auf letztem Wort. Wenn eine Zahnfehlstellung nicht behandelt wird, drohen angeblich folgende Gesundheitsrisiken: Probleme mit dem Kauen und Sprechen, bei der Zahnreinigung, in der Folge Zahnfleischentzündungen und Karies, Kiefergelenkprobleme, Kopfschmerzen, Schleimhauteinbisse.

Wissenschaftliche Beweise dafür fehlen, das gestand die Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie 2008 sogar selbst in einer Stellungnahme ein, die heute allerdings nicht mehr ohne weiteres im Netz zu finden ist. Darin heißt es: „100 Jahre nach Gründung der wissenschaftlichen Gesellschaft fehlen uns die Beweise, die heutzutage anerkannt werden. Es existiert keine Studie zur langfristigen Wirkung der kieferorthopädischen Intervention noch zu ihrer Auswirkung auf die Mundgesundheit. Ob die Behebung von Zahnfehlstellungen eine wirksame Voraussetzung für den Erhalt der natürlichen Zähne ist, ist nicht beantwortbar. Das Kariesrisiko kann in keiner Weise quantifiziert werden.“

Genau das sagen auch die Kritiker: Eine Zahnspange mag die Zähne schöner machen, ob sie dadurch auch gesünder werden bzw. bleiben, ist unsicher. Stattdessen drohen durch eine kieferorthopädische Behandlung Nebenwirkungen, wie auch bei jeder anderen medizinischen Behandlung. Das sollten Eltern abwägen. Sehr viel entscheidender für gesunde Zähne als ihre gleichmäßige Stellung, sei eine regelmäßige gründliche Zahnhygiene. Früh und morgens Putzen garantiere also eher gesunde Zähne als eine Zahnspange. Es gibt mehrere Studien, die einen Zusammenhang zwischen einfachen Zahlfehlstellungen und gesundheitlichen Problemen mindestens in Frage stellen, wenn nicht sogar widerlegen. Eine dieser Studien erschien 2016 im von Bertelsmann und Barmer herausgegebenen Gesundheitsmonitor. Wir stellen kurz die wichtigsten Ergebnisse der Studie dar:

Befragt wurden 1.500 Patienten mit Zahnspange zwischen 10 und 17 Jahren. Sie füllten gemeinsam mit ihren Eltern einen umfangreichen Fragebogen aus. 61 Prozent gaben an, dass sie vom Zahnarzt nicht darüber aufgeklärt wurden, dass auch die Möglichkeit besteht, die Behandlung später oder gar nicht durchzuführen. Stattdessen wurden sehr viele Eltern vor den Risiken einer Nichtbehandlung gewarnt. Zudem hätten viele Ärzte darauf hingewiesen, die Behandlung zeitnah zu beginnen, da die Kassen die Kosten nur bis zum 18. Geburtstag übernehmen. In der Studie heißt es: „Die Forschungsliteratur geht von der relativen Ungefährlichkeit von Zahnfehlstellungen aus, sodass derartige Angstszenarien absolut unbegründet erscheinen.“ 65 Prozent der befragten Jugendlichen gab an, zunächst mit einer herausnehmbaren Spange behandelt worden zu sein, bevor eine feste Spange folgte. Der Nutzen dieser frühen Behandlung noch vor Abschluss des Zahnwechsels mit einer herausnehmbaren Spange, ist in der Fachwelt ebenfalls umstritten. Befürworter sagen: So könne man frühzeitig Fehlstellungen vorbeugen und die Gesamtbehandlungsdauer verkürzen. Kritiker halten eine so frühe Behandlung, wenn Zähne und Kiefer sich noch im Wachstum befinden, für unnötig. Sie sei sehr viel schneller und preiswerter machbar, wenn man erst die bleibenden Zähne behandele. In der Studie heißt es dazu: „Der hohe Anteil junger Patienten, die zunächst mit zusätzlichem, finanziellem und zeitlichem Aufwand mit losen Zahnspangen behandelt werden, ist wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen. Der hohe Anteil an herausnehmbaren Apparaturen kann zusätzlich die lange aktive Behandlungsdauer in Deutschland erklären. Natürlich gibt es Ausnahmefälle, in denen eine Frühbehandlung durchaus indiziert sein kann, doch für das Gros der Kinder bleibt die Behandlung mit fester Zahnspange im bleibenden Gebiss das Mittel der Wahl: Sie ist kürzer, effektiver und kostengünstiger als die zweiphasige Behandlung mit loser und fester Zahnspange.

Interessant sind auch die Ergebnisse zu den Gründen der Behandlung: Funktionelle und psychosoziale Probleme oder Beschwerden der Kinder spielen vor Behandlungsbeginn fast keine und nur bei einer
Minderheit eine veranlassende Rolle. Aber gut die Hälfte der Befragten gab an, dass ihnen ästhetische Gründe wichtig sind. Fast immer hat der Arzt über die Notwendigkeit einer Behandlung entschieden. 85 Prozent der Eltern gaben an, dass ihnen privat zu zahlende Zusatzleistungen in Rechnung gestellt wurden, im Schnitt zahlten Eltern 1.200 Euro. Das reine Kassenmodell ohne jegliche Zusatzkosten für die Eltern ist nur wenig verbreitet. Aber es gab in der Studie auch Lob für die Kieferorthopäden: Fast 90 Prozent der Befragten waren insgesamt zufrieden mit der Behandlung. Kritik gab es nur im Detail: So hätten sich 43 Prozent eine kürzere Behandlung gewünscht. Trotz des Lobs: Einige der Ergebnisse dürften den Kieferorthopäden nicht gefallen haben. Einer der Autoren dieser Studie, der Kieferorthopäde Alexander Spassov, hat nach der Veröffentlichung seine Stelle an einer Klinik verloren.

Diese Befragung bestätigt, was Kritiker wie Madsen sagen: Die wenigsten Spangenträger haben zu Behandlungsbeginn gesundheitliche Probleme aufgrund ihrer schiefen Zähne. Dass sie ohne Spange tatsächlich welche bekämen, ist unwahrscheinlich. Vielmehr scheinen manche Zahnärzte die Angst ihrer Patienten auszunutzen. So baut eine kieferorthopädische Praxis auf Ihrer Internetseite noch ganz andere Gefahren-Szenarien auf, sollte die Fehlstellung unbehandelt bleiben: „Vielfältige Entwicklungsstörungen wie ADHS, Konzentrations- oder Lernstörungen können im Zusammenhang mit Zahn- und Kieferfehlstellungen stehen. Zudem kann eine Rücklage des Unterkiefers oder ein zu schmaler Kiefer bereits im Kindesalter Atemprobleme, Schnarchen und Schlafstörungen mit Folgeerscheinungen hervorrufen.“

Stattdessen spielen in fast allen Fällen ästhetische Aspekte eine Rolle: Kinder und Eltern möchten ein strahlendes, gleichmäßiges Lächeln. Die Frage: Muss man das öffentlich finanzieren über die gesetzliche Krankenversicherung oder sollte dies nicht lieber privat finanziert werden? Madsen hat dazu eine klare Meinung: „Die begrenzten Mittel unseres Gesundheitswesens sollten sehr sorgfältig eingesetzt und nur das wirklich Notwendige finanziert werden. Ich denke, dass es sehr viel ernstere Probleme im Gesundheitswesen gibt als schiefe Zähne.“

Darüber werden Patienten, die seine kieferorthopädische Praxis aufsuchen, auch aufgeklärt. Viele wünschen gleichwohl eine Behandlung aus ästhetischen Gründen. Der Wunsch nach einen perfekten Lächeln sei durchaus legitim, allein die Frage nach der Bezahlung ist es auch. Andere kosmetische Behandlungen werden schließlich auch nicht von den Kassen getragen. Etwas anderes sei es, wenn Kinder so auffällige Fehlstellungen haben, dass diese zwar keine körperlichen Beschwerden verursachen, aber Auslöser für psychosoziale Probleme sein könnten. Auch dann sei eine Finanzierung über die Krankenversicherung gerechtfertigt, sagt Madsen.

Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung kennt die Vorwürfe, dass zu viele kosmetische Eingriffe übernommen würden und dass sie oft zu lange dauern und will reagieren, wie es auf „lausebande“-Nachfrage heißt: „Der GKV-Spitzenverband hält es für wichtig, dass Notwendigkeit, Wirkungen, Nebenwirkungen und Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen nach objektiven Kriterien – evidenzbasiert – wissenschaftlich untersucht werden. … Derartige Studien sind aufwändig, aber ihre Durchführung ist unvermeidlich, wenn tatsächlich belastbare Ergebnisse zur Wirksamkeit verschiedener Behandlungsmaßnahmen gewonnen werden sollen. … Der GKV-Spitzenverband hält daher eine Nutzenbewertung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) für sinnvoll und wird sich dafür einsetzen.“ Je nachdem was bei einer solchen Studie herauskommt, werde man die Kostenerstattung ggf. anpassen. Denkbar sei die Einführung von Behandlungspauschalen ebenso wie eine Änderung der Behandlungszeiträume.