Vogelpapa

Datum: Freitag, 09. September 2011 10:14

Haben Sie sich schon einmal in einen Regenwurm verliebt, ihm zusammen mit Artgenossen einen Biotop inklusive kleiner Kuscheltiere und Häuschen gebaut, ihnen Namen gegeben und sie pausenlos gestreichelt? Für meine Kleine gab es ein ganzes Wochenende nichts Spannenderes, als die braunrosa Fleischnudeln namens Tobi, Wurmi, Schlängelchen und Schlängeline in einer großen Plastikbadewanne zu bemuttern. Nur mit Mühe konnte sie sich am ersten Abend von ihren Schützlingen trennen, als wir aus dem Garten heimfuhren. Ausgerechnet an diesem Abend blätterten wir im Bilder-Buch „Peter bei den Vögeln“, in dem auf jeder zweiten Seite ein Vogel genüsslich einen Wurm verputzte. Beim dritten Wurm-schluckenden Monstergefieder auf Seite 7 scheiterten all meine Ablenkungsversuche. Tobi, Wurmi, Schlängelchen und Schlängeline waren in Gefahr – und ihre selbsternannte Mutter Courage musste sie vor den im dunklen Garten lauernden Spitzschnäbeln retten. Alle Beschwichtigungsversuche von wegen schlafenden Vögeln, oder für Vogelschnäbel viel zu tief eingegrabenen Wümern zeigten keine Wirkung. Wurmmutter weinte herzzerreißende Krokodiltränen in Furcht um ihrer Brut. Es half nichts, per Eilkurier wurde die Plastikwanne aus dem Garten nach Hause transferiert, eine halbe Stunde durchbuddelt, bis auch alle vier Regenwürmer gefunden und auf ihre Lebenstüchtigkeit überprüft waren. Dann musste ich noch der ganzen Wurmfamilie eine neue Gute-Nachtgeschichte vorlesen. Vollkommen vogelfrei, versteht sich. Zwei Wochen später fand die Wurmvorliebe ein jähes Ende. In einem alten verrosteten Saunaofen neben dem Gartenhäuschen hatte sich ein Vögelchen eingenistet, mit sieben kleinen hellblauen Eiern. Als unsere Kleine das Nest mit der brütenden Vogelmama entdeckte, wurden die erdflüchtigen fleischigen Dinger sofort abgeschrieben und des Wurms Feind Nummer Eins bestieg den Beliebtheitsthron meiner Kleinen. Nur mit Mühe konnten wir sie davon abhalten, die Eier selbst auszubrüten. Als dann kurze Zeit später sieben kleine Schnäbelchen noch fast geräuschlos nach Nahrung jauchzten, hätte die ehemalige Wurmmutter ohne schlechtes Gewissen sofort jeden ihrer Ex-Schützlinge aus dem Boden gezerrt, um ihn ihren wuschligen gefiederten Vogelbabys in den Schnabel zu packen. Begleitet wird jede Tierliebe von Rollenspielen zu Hause, zu denen sich meist nur ein treusorgender Vater erniedrigen lässt. Zumindest ist das bei uns so. Seitdem spiele ich Vogelbabys, umschlungen von einer Nest-imitierenden Kuscheldecke, von meiner Vogelmama mit imaginären Wurmhorden gemästet. Immerhin ist das schon besser, als sich wie ein glitschiger Wurm durchs Kinderzimmer zu winden. Aber ich bin inzwischen ein ganz schön fetter Vogel – und wenn sich nicht bald die nächste Vorliebe anbahnt, beschweren sich unsere Nachbarn wahrscheinlich noch wegen des dumpfen Gezwitschers aus unserer Wohnung oder bestellen gleich den Transfer in die Psychatrie. Wahrscheinlich kaufen deshalb viele Eltern irgendwann ein Haustier, auf dass kleine Mütter all ihre Liebe projizieren können. Ich werde mir das mit dem Pony auf dem Balkon also doch noch einmal überlegen müssen …