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Titelthema :: Seite 33
lung des Kindes beeinträchtigen
kann. Es kann aber auch gradu-
elle Abstufungen geben – inso-
fern kann sich eine ADHS-Diag-
nose auch in einem Grenzbereich
bewegen. Es gibt auch Kinder, die
nicht die vollen Kriterien für ADHS
erfüllen, aber eine erhöhte Impul-
sivität zeigen und sich vielleicht
auch weniger gut konzentrieren
können. Auch bei Kindern mit ei-
ner leichten und weniger ausge-
prägten ADHS-Symptomatik ist es
ganz wichtig, mit psychologischen
Maßnahmen zu unterstützen. Das
können insbesondere Erziehungs-
maßnahmen oder gezielte Hilfen in
Schule oder in Kindergarten sein.
Für solche Maßnahmen ist es ei-
gentlich egal, ob ich die Diagnose
vergebe oder nicht.
Gibt es Schätzungen, wie viele der
ADHS-Betroffenen tatsächlich dia-
gnostiziert und therapiert werden?
Es gibt Studien, die untersucht ha-
ben, wie viele Kinder die Kriterien
für eine ADHS erfüllen. Die Zahlen
schwanken – in einer großen Un-
tersuchung im Rahmen des Kin-
der- und Jugendgesundheitsser-
vices, die vom Robert-Koch-Institut
durchgeführt wird, lagen die Zah-
len für ADHS bei einem Anteil von
5 bis 6% aller Kinder. Bei Kindern
im Schulalter und bei Jungen ist
der Anteil deutlich höher als bei
älteren Kindern oder bei Mädchen.
Das ist deutlich mehr als früher,
und genau das wird auch in den
Medien kritisch gesehen. Aber frü-
her hat man auch nicht genau ge-
nug hingeschaut. Es gibt aber auch
zwei Fehldiagnosebereiche: Zum
einen wird vorhandenes ADHS
nicht erkannt und nicht diagnos-
tiziert – und zum anderen wird
nicht vorhandene ADHS diagnos-
tiziert. Beide Fehler treten nach wie
toren als auch psychische oder so-
ziale Faktoren eine Rolle spielen
– und dass diese sehr komplex mit-
einander verbunden sind. Aus die-
semGrund sollte eine Therapie das
Problem auch aus medizinischer
und psychologischer Sicht betrach-
ten. Eltern rutschen oft in typische
Erziehungsfehler hinein – nicht
weil sie in der Erziehung schlecht
sind, sondern weil die Kinder es ih-
nen auch relativ schwer machen,
sie „gut“ zu erziehen. Es ist für Be-
troffene unendlich schwer, nicht
in die Falle des ständigen Ermah-
nens und Bestrafens der Kinder zu
tappen. Daraus kann ein negativer
Kreislauf mit vielen negativen Er-
fahrungen für die Kinder und auch
Eltern entstehen. Auf der anderen
Seite brauchen die Kinder aber
auch sehr klare Strukturen und
ein konsequentes Erziehungsver-
halten mit positiven Anreizen für
das Kind. Das hinzubekommen,
ist wirklich sehr schwer. Damit ha-
ben nicht nur Eltern, sondern auch
Pädagogen ein Problem.
Stichwort Modediagnose ADHS:
Was raten sie denn Eltern, die an
einer ADHS-Diagnose Zweifel ha-
ben?
Es ist wirklich in Gefahr,
dass ADHS für alle Kinder mit Leis-
tungs- oder Verhaltensproblemen
zur Modediagnose verkommt. Bei
ADHS gibt es anders als bei ande-
ren psychischen Störungen wie
Ängsten oder Depressionen kei-
ne klaren Grenzen zwischen Auf-
fälligkeit und Unauffälligkeit. Ich
vergleiche das immer mit Proble-
men wie Bluthochdruck oder Über-
gewicht. Das ist eine graduelle An-
gelegenheit: Man kann mehr oder
weniger davon haben. Wenn man
ganz viel davon hat, dann ist das
eine ernsthafte, bedrohliche Pro-
blematik, die die weitere Entwick-
vor auf. Es gibt weiterhin Kinder,
die lange nicht erkannt werden,
lange leiden und keine spezifische
Hilfe bekommen. Es gibt aber kei-
ne Zahl, welcher Fehler nun häufi-
ger vorkommt – ob der „Modediag-
nosefehler“ oder die Diagnose, die
zu spät kommt.
Was sollte sich ihrer Meinung
nach in unserer Gesellschaft im
Umgang mit ADHS ändern?
Ich
würde mir wünschen, dass es uns
gelingt, ADHS aus dieser emoti-
onalen und ideologisierten Dis-
kussion herauszubekommen. Ich
habe nie verstanden, warum bei
ADHS so intensiv um bestimm-
te Punkte diskutiert wird, die ei-
gentlich für alle psychischen Stö-
rungen zutreffen. Wir haben es bei
allen psychischen Störungen mit
Fehldiagnosen zu tun, da es flie-
ßende Übergänge von Gesundheit
und Normalität hin zur Auffällig-
keit gibt. Das ist bei Masern oder
Mumps sicher anders. Ich würde
mir sehr wünschen, dass Medien
und Gesellschaft sich ein bisschen
mehr an wissenschaftliche Ergeb-
nisse halten und die Diskussion
versachlichen. Man kann es trotz-
dem kritisch hinterfragen – das ist
ja ein wesentliches Merkmal von
Wissenschaft. Ich wünsche mir
auch, dass pädagogische Einrich-
tungen sich besser auf Kinder mit
solchen Problemen einstellen kön-
nen. Das heißt aber auch, dass wir
die Pädagogen entsprechend quali-
fizieren müssen. Vielleicht ist auch
ein bisschen mehr Toleranz gegen-
über kindlicher Impulsivität und
Sprunghaftigkeit und Spontanität
wünschenswert – damit wir nicht
gleich alle Regungen in auffällige
Kategorien packen müssen.
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