lausebande-04-2021

oder rechnen kann. Die Problematik rankt sich meist um die Schule. Kinder, die im ersten Lock- down eingeschult wurden, hatten sich gerade in eine neue Situation eingewöhnt – und mussten dann wieder nach Hause. Sie wurden mit vielen Dingen allein gelassen, die Ausprägung wechselt von Schule zu Schule. Es gibt auch sehr bemühte Grundschullehrer, die den Kontakt gehalten haben. Das ist eine enorm wichtige Ressource. Halten Lehrer Kontakt, mindert sich das Gefühl der Isolation für Kinder, die schulische Moti- vation steigt. Meist sehen wir bei Kindern aber eine massive Zunahme des Medienkonsums. Viele Kinder haben im Pandemiejahr stark zuge- nommen. Der Weg in die Schule, Sport und der Kontakt zu Gleichaltrigen entfallen. Daraus resul- tiert anfangs eine Verstimmtheit, die zu massiven Interaktionsstörungen zwischen Kindern und Eltern führen kann. Die Ursache ist dabei die zu- nehmende Überforderung der Eltern. Sie sind ge- nervt im Homeoffice oder ohne Arbeit zu Hause, haben persönliche Schwierigkeiten mit einer neuen Struktur, es kommt vermehrt zu Gewalt in den Familien. Es kommen immer mehr Eltern in die Praxis, bei denen physisch wie psychisch Er- schöpfung vorliegt. Bei den Kindern sind akute Belastungsreaktionen zu sehen, teilweise trauma- tisieren sie. Manchmal kommen Patienten nicht mehr. Kürzlich antwortete ein kleiner Patient, er könne nicht mehr kommen, weil die Mama seit drei Tagen quasi regungslos auf dem Sofa in den Tag hineinlebt. Wo sonst auch andere Hilfen ge- griffen haben, bleiben Kinder sich immer mehr selbst überlassen. Ist die Pandemie in der Mitte der Gesellschaft angekommen? Ja. Im ersten Lockdown war das Problem eher bei den bildungsfernen Schichten sichtbar. Jetzt haben wir Patienten aus allen Bildungsschichten, die durch das Alleingelassensein erkranken. Gibt es einfache Hinweise, an denen Eltern merken, dass Sie handeln sollten – und was genau sollten Sie dann tun? Eltern sollten wachsam mit sich selbst sein – ins- besondere dann, wenn es ihnen zunehmend schwerfällt, mit Kindern Aufgaben im Home- schooling zu erledigen. Wenn Eltern insbeson- dere bei kleineren Kindern unruhig werden oder wütend reagieren, helfen Strategien. Man kann mit dem Kind aushandeln, was man am Tag erle- digt und wo man aufhört. Es gibt in jedem Alter eine Grenze der Belastbarkeit. Selbst wenn die Schule mehr aufgibt, ist das nicht in jedem Alter und durch jedes Kind zu leisten. Es muss auch nicht sein, es geht hier nicht um den Schulstoff, sondern darum, Kinder emotional und psychoso- zial gut zu begleiten. Wenn sich Eltern und Kinder beim Lernen streiten, ist das für beide schlecht. Klare Pläne mit gemeinsamen Pausen können helfen: Eine Runde um den Block gehen oder ein Ballspiel machen, das ist gut für die Nerven. Die Kleinen brauchen eine positive Interaktion, aktive Pausen sind wichtig. Was müsste sich Ihres Erachtens tun, damit sich die Situation für Kinder und Jugendliche verbessert? Es wäre sehr wohl möglich und wichtig, dass die Schule mehr Kontakt zu den Schülern aufbaut, gerade beimDistanzlernen. Dabei geht es um posi- tive Beziehungserfahrungen. Fehlt der Kontakt, sinken Motivation und Selbstvertrauen. Im Wech- selunterricht sollten Kinder in der Präsenzwoche nicht mit Arbeiten und Tests bombardiert werden. Es geht jetzt nicht um Noten, sondern darum, die Kinder aufzufangen und überhaupt erst wieder eine Basis fürs Lernen zu schaffen. Leistungsdruck wird von vielen Kindern aktuell als sehr belastend empfunden. Auch für Lehrer und Schule ist es eine Ausnahmesituation, auf die man sich schwer ein- stellen kann. Aber gerade für Kinder aus schwie- rigen Verhältnissen sollte es verpflichtend werden, sich mit weiteren Kindern mehrmals je Woche in kleinen Gruppen zu treffen. So behält man die Kinder imBlick. Aktuell rutschen sehr viele Kinder durchs System. Missbrauch, Vernachlässigung, suchtkranke Eltern – für diese Kinder braucht es dringend Angebote. Viele bildungsstarke Elternhaushalte kennen solche Problemsituationen nicht und haben Hemmnisse, externe Hilfe zu suchen – wel- chen Rat haben Sie für diese? Eltern sollten vor allem Verständnis aufbauen, was die Situation für ihre Kinder bedeutet. Viele Entwicklungsaufgaben für Kinder sind derzeit blockiert. Ob Kita, Grundschule oder Oberstufe – in jedem Abschnitt haben Kinder bestimmte Entwicklungsaufgaben und dazu müssen Dinge auch außerhalb der Familie stattfinden. Das ist aktuell nicht möglich, es ist ein großer Mangel bei den Kindern da. Eltern merken selbst die Be- lastung auf der Arbeit, den Verlust an Freizeit und Vergnügen. Sie müssen sehen, was ihnen selbst 40 › Corona Update

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