Seite 49 - lausebande_09-2013

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Titelthema :: Seite 49
Jörg Dräger ist Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung und für Bildung
zuständig. Der zweifache Familienvater veröffentlichte im vergangenen Jahr
zudem das Buch „Dichter, Denker, Schulversager“ über unser Bildungssystem.
„Vielfalt ist unsere Chance“
Interview mit Jörg Dräger
Denken Sie, wir Deut-
schen meckern seit dem
PISA-Schock
schon
aus Gewohnheit, oder ist unser
Bildungssystem tatsächlich so
schlecht?
Ich würde sagen: Hälfte, Hälf-
te. Denn was wir häufig überse-
hen: Seit etwa 12 Jahren macht
Deutschland unter den entwickel-
ten Ländern der Welt den größ-
ten Fortschritt im Bildungssys-
tem. Wenn man also PISA 2000
und PISA 2010 vergleicht, dann
geht es in Deutschland am steils-
ten nach oben – aber nur für die
Schüler, deren Kompetenzwer-
te zuvor sehr gering waren. Die
schwächsten Schüler sind in die-
sen zehn Jahren viel besser ge-
worden. Die besten und stärksten
Schüler hingegen stagnieren, in
Teilen sind deren Leistungen so-
gar leicht zurück gegangen.
Sie sprechen in Ihrem Buch
„Dichter, Denker, Schulversager“
in dem Zusammenhang sogar
von einer Gefährdung der Gesell-
schaft. Ist das nicht ein bisschen
übertrieben?
Nicht dort, wo wirklich Schüler
die Schule ohne Abschluss ab-
brechen und an der Gesellschaft
später nicht teilhaben können.
Wir tolerieren seit fünfzig Jahren,
dass in Deutschland zwischen ei-
nem Fünftel und einem Drittel der
Schüler durch das Raster des Bil-
dungssystems fallen. Das kostet
das Sozialsystem unglaublich viel
Geld, das steigert die Kriminali-
tät, das treibt die Gesundheits-
kosten nach oben.
Kann man die negativen Effekte
schlechter Bildung genauer be-
nennen?
Was man berechnen kann, sind
riesige, fast unvorstellbar große
makroökonomische Effekte. Un-
ser Wirtschaftswachstum leidet
an den Nicht- und Geringquali-
fizierten. Über ein Menschenle-
ben hinweg, also die Zeitspan-
ne von 80 Jahren, geht uns durch
den großen Anteil Geringqualifi-
zierter die gewaltige Summe von
1.800 Milliarden Euro verloren.
Auch die Belastung der Sozial-
systeme kann man berechnen:
In jedem Jahr bleiben ungefähr
150.000 Menschen ohne Ausbil-
dung, das kostet uns für jeden
Jahrgang 1,5 Milliarden an ent-
gangenen Steuern bzw. an Ar-
beitslosenversicherung und So-
zialleistungen. Auch eine starke
Abhängigkeit zwischen geringer
Bildung und höherer Kriminalität
ist belegt. Wenn es nur die Hälf-
te der heutigen Schulabbrecher
gäbe, dann hätten wir 300.000
Straftaten weniger pro Jahr.
Wenn wir an PISA denken, haben
wir immer Finnland als Gewinner
im Hinterkopf. Was wird dort bes-
ser gemacht?
Ich würde nicht nach Finnland
schauen. Finnland hat eine sehr
homogene Gesellschaft. Wir hin-
gegen haben in Deutschland in-
zwischen eine sehr heteroge-
ne Gesellschaft, viele Kinder
mit Migrationshintergrund oder
aus sehr unterschiedlichen so-
zialen Schichten. Da ist Kanada
ein viel besseres Beispiel. Kana-
da hat ähnliche gesellschaftliche
Voraussetzungen und dennoch
deutlich bessere Bildungserfol-
ge. Dort gibt es eine ganz ande-
re, individuelle Lernkultur in der
Schule. Der Leitspruch ist häu-
fig „Vielfalt ist unsere Stärke“.
In Deutschland würde man ger-
ne sagen „Vielfalt ist unser Pro-
blem“. Hierzulande würde ein
Lehrer sagen, dass seine Schü-
ler einfach zu ungleich sind, er
könne sie nicht unterrichten. Die
kanadische Philosophie lautet:
Diese Ungleichheit ist der Aus-
gangspunkt jedes Lernens. Es
ist die Aufgabe des Lehrers, ein
Lernbegleiter zu sein und einen
individuellen Lernplan mit den
Schülern aufzustellen, nach dem
jeder Einzelne nach seinem per-
sönlichen Leistungsstand und
seiner eigenen Lerngeschwin-
digkeit lernen kann. Das ist der
große Unterschied. Wenn wir in
einer Klasse, auch am Gymnasi-
um, einen Leistungsabstand von
mehreren Jahren habe, können
wir den Unterricht nicht mehr am
Durchschnitt orientieren und das
Wissen nicht mehr im Gleich-
»