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Titelthema :: Seite 67 pädagogisches Know-how. Nur dann können sie beim Experimen- tieren, Beobachten und Reflektie- ren angemessene Fragen stellen und Hilfen geben. Diese pädago- gischen Aufgaben scheinen mir in Gefahr, wenn man aus der Ganz- heitlichkeit eine Ideologie macht. Inwiefern? Lernen mit Kopf, Herz und Hand ist ein uraltes pädago- gisches Prinzip und das klingt toll. Für die Persönlichkeitsreifung und die Mündigkeit von Jugendlichen ist es sehr wichtig, aber das Prob- lem ist: Wer auf ein ganzheitliches Konzept setzt, lässt oft außer Acht, dass Bildungs- und Erziehungspro- zesse eine Strukturierung brau- chen. Diese Strukturierung soll das Kind nicht überwältigen, sondern Voraussetzungen schaffen für die Vermittlung von hochkomplexen Fähigkeiten und Wissensstruktu- ren. Das Wort Ganzheitlichkeit ver- schleiert leider den Blick darauf, was systematische Förderung be- deutet. Das muss man aber wissen und berücksichtigen, wenn man beispielsweise kleinen Kindern vermitteln will, wie Natur funktio- niert. Zum spielerischen Erfahren gehört immer auch Reflexion. Gu- ter Unterricht [...] Was sagt die Wissen- schaft: Lernen Schüler besser mit ganzheitlichen Konzepten als im klassischen Fron- talunterricht? Eine klare Erkenntnis der Bildungsforschung der letzten Jahre ist: Je schwächer die Lern- voraussetzungen sind, desto mehr Führung brauchen die Schüler beim Lernen. Das heißt: Vor allem schwächere Schüler profitieren nicht von offenen Unterrichtsformen. Re- formpädagogische Ansätze können sie überfordern, wenn sich die Lehr- kraft dabei stark zurücknimmt, wie es häufig propagiert wird. Während Schüler mit besseren Lernvorausset- zungen in beiden Konzepten glei- chermaßen engagiert sind, ziehen sich schwächere Schüler zurück, ar- beitetenweniger mit. Leider ist diese Erkenntnis noch nicht in der Praxis angekommen. Ich halte es für fatal, dass in Deutschland verstärkt offe- ne Unterrichtsformen für heteroge- ne, schwierige Klassenmit Schülern mit Lernschwierigkeiten empfohlen werden. Gerade diese Schüler brau- chen einen gut vorbereiteten, struk- turierten Unterricht. Das heißt nicht: Frontalunterricht, das können auch andere Unterrichtsformen sein, so- lange sie klar strukturiert und vor- bereitet sind. Reformpädagogen üben immer wieder Kritik am Frontalunterricht. Können Sie diese Kritik nachvoll- ziehen? Ja sicher, wenn damit ein Unterricht gemeint ist, bei dem sich die Lehrkraft mit wenigen un- terhält und die meisten Schüler passiv bleiben. Aber, wie gesagt, auch alternative Unterrichtsfor- men garantieren nicht, dass alle aktiv am Lerninhalt arbeiten. Fron- talunterricht ist nicht immer falsch und Reformpädagogik ist nicht im- mer richtig. Es braucht beides und hat beides seine Berechtigung, übrigens auf allen Bildungsstufen von der Kita bis zur Hochschule. Lehrkräfte müssen beides können, sie brauchen ein breites Methoden- repertoire, wenn sie die Persön- lichkeit stärken und zugleich Wis- sen und Fähigkeiten systematisch vermitteln wollen. Leider wird das oft gegeneinander ausgespielt. Also sollten Experimente eben- so zur Schule gehören wie klassi- scher Unterricht? Die Forschung sagt, dass wir durchaus Experi- mente und Aktivitäten in der Na- tur brauchen – auch in der Schule. Aber nur staunend davorstehen, reicht nicht. Die dabei gesammel- ten Erfahrungen kann man erst dann als Wissen begreifen, verste- hen und anwenden, wenn darüber auch systematisch nachgedacht wird. Dafür brauchen Pädagogen viel fachliches, didaktisches und WarumAnspruch undWirklichkeit von künftigen Lehrern oft weit auseinan- der liegen und warum gute Schule sowohl lehrergesteuerten Fachunterricht als auch ganzheitliche Konzepte braucht, erklärt Bildungsforscher Prof. Dr. Eckhard Klieme im Interview. Er leitet die Abteilung „Bildungsqualität und Evaluation“ am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische For- schung in Frankfurt a.M. Keiner möchte der klassische Lehrer mit Zeigestock sein Foto: fotorismus für DIPF www.lausebande.de [online weiterlesen]
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