lausebande-09-2020
Aktuelles :: Seite 7 „Ich bin Karl. Der Plan meiner Eltern, mich voll ausgestattet in zehn Wochen liebevoll in die Arme nehmen zu können, wurde vor drei Tagen unvor- hergesehen geändert. Ich hatte mich gerade so wohl gefühlt in Mama`s Bauch und mit ihr kleine Verstän- digungszeichen verabredet. Wenn sie mit mir sprach oder mich anstupste, klopfte ich von innen dagegen. Doch plötzlich änderte sich alles - die Fruchtblase platzte und es wurde immer enger. Jemand tauschte meine gemütliche Behausung gegen einen durchsichti- gen, aber zumindest warmen Kasten aus. Nun bin ich verkabelt und beklebt, in meiner Nase ist ein Schlauch und ich habe etwas auf dem Kopf und um den Po ge- wickelt, was sich unangenehm anfühlt. Die Geräusche und das Licht sind ganz anders als in Mama`s Bauch. Ich kann auch keine schwerelosen Purzelbäume mehr machen. Habe ich Schmerzen, dann schreie ich, so laut ich kann. Alles ist so beängstigend groß und weit. Manchmal vergesse ich zu atmen, dann piept der Kas- ten laut. Ich durfte schon einige Male auf der Brust meiner Mama kuscheln, ihren Duft einatmen und ein paar Tröpfchen Muttermilch schleckern. Das ist sehr schön, aber wahnsinnig anstrengend. Meistens schlafe ich nach kurzer Zeit ein und wenn ich die Augen aufmache, ist Mama weg und ich weiß nicht, ob sie wiederkommt. Meine gewohnte Welt fehlt mir und ich muss lernen, in der neuen Welt anzukom- men. Aber ich habe einen starken Willen und will leben. Und ... ich bin nicht allein, neben mir liegen noch Thea, Ole, Alex und Mia, allesamt Schnellstar- ter wie ich. Ich strenge mich an, alles zu lernen, was die „Reifen“ schon können- allein atmen, Tempera- tur halten, saugen, schlucken, schlafen und wach sein, hören, schmecken, riechen, fühlen, sehen, mit Mama und Papa in Kontakt treten, um ihnen zu zei- gen, was ich brauche. Dabei helfen mir ganz viele Leute. Ich glaube, sie sind auch froh, wenn ich bald nach Hause darf.“ So oder ähnlich könnte man sich das Tagebuch eines Frühgeborenen vorstellen, wenn es sich be- wusst erinnern könnte. Aber auch für die betrof- fenen Eltern bedeutet die vorzeitige Geburt eines Babys, meist ohne vorherige Ankündigung, eine emotionale Belastung und Herausforderung. Ab diesem Moment stehen völlig neue Lebensaufga- ben und Entscheidungen an. Gefühle von Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht oder Ausgeliefertsein aufgrund medizinischer Probleme oder Komplika- tionen gehen gleichzeitig einher mit der Sorge um die spätere körperliche oder geistige Entwicklung des Kindes. Diese Anspannung und Belastung kön- nen bei Eltern eines Frühgeborenen über Monate oder Jahre bestehen bleiben und eine gelungene Beziehung durch das Zurückgreifen auf intuitive Fähigkeiten behindern. Hinzu kommt, dass das Frühgeborene aufgrund seiner körperlichen Unrei- fe noch nicht in der Lage ist, mit seinen Eltern so aktiv zu kommunizieren wie ein normal geborenes Baby. Es ist sehr reizempfindlich und leicht zu irri- tieren. So wechseln seine Verhaltenszustände z.B. bei Überforderung durch zu viele Reize schnell zwi- schen Übererregung (schreien, zittern) bis hin zur Überflutung oder Unteraktivierung („abschalten“, einschlafen) bis hin zur Erstarrung. Dies kann zu Ir- ritationen oder Fehlinterpretationen und damit zu einer ungünstigen Eltern-Kind-Interaktion führen. Viele Eltern stellen ihre Kommunikation mit ihrem Kind aus Unsicherheit dann ein. Sobald es der medizinische Zustand des Kindes er- laubt, können die Eltern auf der Intensivstation in der Interaktion mit ihrem Kind angeleitet werden. Zu der frühzeitigen Beziehungsaufnahme gehört die bewusste Anwesenheit der Eltern. Sie erlernen die Signale ihres Kindes wahrzunehmen und rich- tig zu interpretieren, um dann ihre Sprache, Gestik, Mimik und Handling an die kindlichen Besonder- heiten anzupassen. Der Körperkontakt zwischen Eltern und dem Frühgeborenen sollte bereits auf der Intensivstation möglichst mehrmals täglich durchgeführt werden. Stress muss jedoch dabei vermieden werden, damit das Kind Berührungen mit seinen Eltern als positive Erfahrung empfindet. Der Bindungs- und Beziehungsaufbau kann da- durch schon sehr früh unterstützt werden und dem Kind Sicherheit bei der Bewältigung zukünftiger Herausforderungen geben. Wie lange das Frühgeborene im Krankenhaus blei- ben muss, hängt im Wesentlichen davon ab, wie früh es geboren wurde und wie schwer krank es war. Stabilisieren sich seine Vitalfunktionen und gedeiht es, kann es nach Hause entlassen werden. Die Eltern haben inzwischen Sicherheit in der Ver- sorgung ihres Frühchens erlangt und sich auf die Ankunft in der Häuslichkeit vorbereitet. Zu Hau- »
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTcxMjA2