46 › Titelthema Gymnasialempfehlung (siehe Infokasten). Wenn Kinder aus sozial schwachen Familien eine Gymnasialempfehlung bekommen, deren Eltern beide kein Abitur haben, dann werden sie häufiger trotzdem auf die Ober- oder Realschule geschickt. So haben die Eltern Sorge, dass sie ihre Kinder auf dem Gymnasium nicht schulisch unterstützen können. Für andere gelten Gymnasien als Schulen für Kinder von Ärztinnen und Anwälten. Die Bildungsforscherin Britta Klopsch spricht in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland von einem Mittelschichtshabitus, der an vielen Schulen in Deutschland herrsche und es Kindern erschwere, die nicht aus der Mittelschicht kommen. Sie bekommen bewusst oder unbewusst das Gefühl vermittelt, dass sie dort nicht hingehören. Wer sich aber nicht wirklich wohlfühlt, sich nicht zugehörig fühlt, der wird auch kein schulischer Überflieger. Die Befunde also sind bekannt – und das schon ziemlich lange. Allein: Es ändert sich nichts. Wir wollen daher schauen, ob es andere Staaten besser machen und falls ja: Können wir von ihnen lernen? Zudem liegen schon reichlich Vorschläge von Fachleuten aus der Wissenschaft auf dem Tisch. Fangen wir damit an. Längeres gemeinsames Lernen? Im Mai hat das ifo-Institut eine Studie veröffentlicht, in der die Chancengerechtigkeit in den einzelnen Bundesländern untersucht wurde. Demnach gehört Sachsen zu den Ländern, wo die Chance auf einen Gymnasiumsbesuch besonders stark vom familiären Hintergrund abhängt, während in Brandenburg die Bildungsgerechtigkeit stärker ausgeprägt ist. Die Studie hat auch auf Unterschiede im jeweiligen Bildungssystem und in der Bevölkerungszusammensetzung geschaut, um mögliche Zusammenhänge herauszufinden. Das Ergebnis: Die Bildungsgerechtigkeit hängt nicht davon ab, wie viele Kinder eines Jahrgangs das Gymnasium besuchen, auch nicht von einem guten oder schlechten Abschneiden bei Bildungsstudien wie PISA. Der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung hat ebenfalls keinen Einfluss. Es gab nur einen einzigen Zusammenhang, der statistisch relevant war: längeres gemeinsames Lernen erhöht die Bildungsgerechtigkeit. Das frühe Trennen der Kinder nach vier Schuljahren, wie es in Deutschland alle Bundesländer außer Berlin und Brandenburg machen, verfestigt die Bildungsungerechtigkeit offenbar. Das zeigt auch ein Blick nach Skandinavien. Die Länder im Norden Europas landen bei Bildungsvergleichsstudien regelmäßig auf den vorderen Plätzen. In Schweden lernen die Kinder neun Jahre gemeinsam, dann endet die Schulpflicht und wer möchte, kann eine dreijährige weiterführende Schule besuchen, die in etwa unserem Gymnasium entspricht. Der dortige Abschluss bereitet wahlweise auf das Studium oder das Berufsleben vor. Ganztagsunterricht gibt es bis zum Schulabschluss. Frontalunterricht findet man dort nur selten, stattdessen Gruppen- und Projektarbeit. Noten gibt es erst ab der 6. Klasse. Schule, Lernmaterialien und Mittagessen sind für alle Kinder kostenlos. Ähnlich sieht es in Finnland aus. Dort lernen die Kinder gemeinsam bis zur 9. Klasse, auch hier werden Kinder in den ersten Jahren nicht benotet, stattdessen wird eigenständiges Lernen und Arbeiten gefördert. Die Kinder sollen das Lernen lernen. Auch ein Blick nach Kanada bestätigt, dass längeres gemeinsames Lernen positiv auf die Bildungsgerechtigkeit wirkt. Die Kinder lernen je nach Provinz sechs bis acht Jahre gemeinsam in der Grundschule. Anschließend folgt die für Alle verpflichtende Junior High School bis Klasse 9. Das heißt, auch hier erfolgt die Trennung der Kinder erst spät. Weitere Unterschiede zum deutschen Schulsystem: Die Schule beginnt erst ab 9 Uhr und bietet bis in die hohen Klassen Ganztagsbetreuung. An den Schulen gibt es neben den Lehrkräften weitere pädagogische Fachkräfte wie Sozialarbeiter, die eine individuelle Förderung und Betreuung in kleinen Gruppen ermöglichen. Das Zeugnis von Klasse 4 bzw. 6 entscheidet, auf welcher Schulform es weitergeht. Ob die Notenvergabe immer gerecht ist, darf bezweifelt werden.
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