lausebande-11-2017

Titelthema :: Seite 54 Pro & Kontra Eine Zahnspange fürs Kind – ist sie tatsächlich immer notwendig und medizinisch geboten? Wir haben Kieferorthopäden gefragt und zwei ganz unterschiedliche Antworten bekommen. Wir leiden an einer Überver- sorgung mit Zahnspangen Wenn fast zwei Drittel eines jeden Jahrgangs junger Menschen eine Zahnspange tragen, ist das zu viel, vor allem, wenn es aus der solidarisch finanzierten gesetzli- chen Krankenversicherung bezahlt wird. Würde das KIG-System streng angewendet, würde nur ein Drittel eine Zahnspange bekommen – das KIG-System wird offensichtlich unterlaufen. Diese Überversorgung scheint eine Folge der sehr hohen Zahl an Kieferor- thopäden zu sein. Großbritannien beispielsweise kommt mit weniger als der Hälfte dieser Zahl pro Be- völkerung aus. Zudem dauern die Behandlungen viel zu lang. Das liegt zum einen daran, dass regelmäßig zu früh begonnen wird, nämlich schon im Grund- schulalter, wenn noch viele Milchzähne da sind. Zum anderen wird in Deutschland die Hälfte der Behand- lungszeit mit den überwiegend veralteten und meist untauglichen herausnehmbaren Spangen bestritten. Diese sind mit hohen Abbruchquoten von 30 bis 50 Prozent verbunden, weil die Patienten die geforder- ten Tragezeiten einfach nicht schaffen können. In Deutschland liegt die durchschnittliche Tragedauer geschätzt bei 36 Monaten. Das ist eine Quälerei für die jungen Patienten und eine unnötige Belastung für die Elternhäuser, auch in finanzieller Sicht. Die Frage nach den Zusatzkosten ist komplex. Es gibt einerseits viele Diagnostik- und Behandlungsmög- lichkeiten, die gar keine Kassenleistung sind, bzw. deren Einsatz bei gesetzlich Krankenversicherten aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich ist. Die Ver- sorgung gesetzlich Versicherter soll „zweckmäßig, wirtschaftlich, ausreichend“ sein. Patientenwünsche nach besseren Leistungen sind daher privat zu be- rechnen. Andererseits besteht ein Rechtsanspruch darauf, auch beim Kieferorthopäden fachgerecht ohne Zuzahlungen behandelt zu werden. Wer die Aufnahme einer Behandlung von einer Zuzahlung abhängig macht, riskiert den Verlust seiner Kassen- zulassung, und die brauchen die Kieferorthopäden fast alle zum Leben. Dr. Henning Madsen, Kieferorthopäde mit Praxen in Mannheim und Ludwigshafen. Er kritisiert seit Jahren die kieferorthopädische Überversorgung und die ineffiziente Behandlungsweise in Deutschland. Wann welche Zahnspange sinnvoll ist Ob und wann eine kieferorthopä- dische Behandlung bei Jugend- lichen sinnvoll ist, entscheidet der Fachzahnarzt für Kieferor- thopädie individuell, je nach Art und Schwere der Zahn- oder Kieferfehlstellung. Die Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie und der Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden stellten bereits 2013 in einer Erklärung klar, dass es viele Fälle gibt, z.B. bei Kreuzbissen, in denen eine zeitlich kürzere Frühbehandlung eine aufwändige Spätbehandlung vermeiden oder reduzieren helfen kann. Dies gilt heute noch und ist klar Stand der Wissenschaft. Bestimmte Fehlstellungen erfordern zu bestimmten Zeitpunkten bestimmte Behandlungsgeräte. Gerade im Wachstum können herausnehmbare Zahnspan- gen, werden sie regelmäßig getragen, als Teil einer umfassenden kieferorthopädischen Behandlung enorm viel bewirken. Mit der KIG-Einführung wurde eine klare versiche- rungstechnische Grenze gezogen: Kieferorthopädi- sche Behandlungen dürfen erst ab einem bestimm- ten Schweregrad GKV-finanziert durchgeführt werden. Wir Fachzahnärzte sehen dies kritisch, denn auch unterhalb dieser Grenze finden sich Fehl- stellungen, deren Behandlung aus medizinischer Sicht wünschenswert und nötig wäre. Dass ein funktionierendes Gebiss auch hübscher aussieht, liegt in der Natur der Dinge. Im Fokus einer Behand- lung stehen jedoch immer medizinische Gründe. Doch der technische Fortschritt ist gerade in den letzten Jahren immens, und natürlich sollen unsere Patienten hieran teilhaben. Wer sich also für eine komfortablere Behandlung entscheidet, die mögli- cherweise angenehmer ist, weniger Eigeninitiative erfordert oder schneller zum Ziel führt, der soll dies selbstverständlich tun dürfen. Welche Kosten hier zusätzlich auf den Patienten zukommen, dafür gibt es klare Regeln – und das vereinbart er direkt mit dem Kieferorthopäden seines Vertrauens. Dr. Hans-Jürgen Köning, 1. Bundesvorsitzender und Prof. Dr. Anton Demling, 2. Bundesvorsitzender des Berufsverbands der Deutschen Kieferorthopäden

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