lausebande-12-2021

Titelthema ‹ 77 Problem darstellt, wenn er er- klärt wird, systematische Er- hebungen kenne ich aber noch nicht. Man kann aber davon ausgehen, dass Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung, nicht regelhafte Schreibungen im Verhältnis zur Lautung für Lernende sicherlich viel grö- ßere Herausforderungen sind. Die Barrierefreiheit ist aber ein Aspekt, den man gut im Auge behalten muss. Für Leichte Sprache gibt es meines Wissens den Vorschlag, geschlechterge- rechte Sprache nur dann anzu- wenden, wenn sie einen Text nicht komplexer macht (weil bei Leichter Sprache die leichte Verständlichkeit nun einmal das wichtigste Kriterium ist). Beim Vorlesen von Texten für Blinde oder Sehbehinderte ist meiner Kenntnis nach vor allem die mangelnde Einheit- lichkeit im Moment ein Pro- blem. Hätten wir einen einheit- licheren Umgang, z.B. immer den Genderstern zu verwenden, könnte man die Screenreader und andere Tools, die Blinde und Sehbehinderte verwenden, entsprechend programmieren. Insgesamt finde ich aber auf- fällig, dass die Aspekte Lern- barkeit, Barrierefreiheit etc. so sehr auf geschlechtergerechte Sprache konzentriert werden. Genauso könnte man ja auch Sie haben jüngst einen Aufsatz mit der Frage überschrieben: „Geschlechter- gerechte Sprache: Zumutung, Herausforderung, Notwendig- keit?“ Wir würden Sie diese Frage beantworten? Ich bin für mich aufgrund der Erkenntnisse, die ich zu diesem Thema habe, zum Schluss ge- kommen, dass eine möglichst geschlechtergerechte Sprache eine Notwendigkeit ist, auch wenn es im sprachlichen Alltag oft eine Herausforderung ist. Ich habe darüber hinaus auch Freude daran, sprachlich Neues auszuprobieren und störe mich nicht daran, sprachliche Ge- wohnheiten zu verändern. Ich würde aber immer dafür plä- dieren, dass jeder Mensch in- dividuell diese Schlüsse für die eigene Sprache ziehen sollte (oder eben nicht), das heißt dass es nicht automatisch eine Notwendigkeit für alle ist. In Institutionen können Richt- linien natürlich wichtig sein, allein aus Gründen der Einheit- lichkeit, aber solche Richtlinien gelten dann immer nur für die Sprachpraxis im direkten Kon- text dieser Institutionen. Das Thema spielt schon länger in der öffentlichen Diskussion eine Rolle. Hat Sie die Heftig- keit nach der Duden-Entschei- dung überrascht? Ich beobachte die Diskussion seit etwa drei Jahren sehr in- tensiv und weiß, dass viele Ge- legenheiten genutzt werden, um das Thema am Kochen zu halten. Die Duden-Entschei- dung wäre an der Öffentlich- keit vermutlich völlig vorbeige- gangen, wenn medial nicht so eine große Geschichte daraus entwickelt worden wäre. Etwas kurios finde ich nach wie vor, dass diese Aufregung vor allem von Gegner*innen geschlech- tergerechter Sprache geschürt und gleichzeitig gesagt wird, wir hätten wichtigere Probleme. Es wäre schon sehr viel geholfen, wenn diejenigen, die immer wieder betonen, andere Dinge wären wichtiger, sich den für sie wichtigen Dingen dann auch einfach zuwenden würden. Umstritten war auch die Ent- scheidung des Rats der deut- schen Rechtschreibung ver- kürzende Formen wie : und * vorerst nicht ins offizielle Regelwerk aufzunehmen. Das betrifft insbesondere Schulen und Verwaltungen. Ein Argu- ment ist die bessere Lesbarkeit und Barrierefreiheit u.a. für Grundschüler oder Nicht-Mut- tersprachler. Gehen Sie mit dieser Argumentation mit? Studierende haben aus Praktika berichtet, dass z.B. der Gender- stern in der Grundschule kein Die sprachliche Welt geht vom Gendern bestimmt nicht unter Mehr Gelassenheit und Sachlichkeit in der Debatte um gender- gerechte Sprache wünscht sich die Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Carolin Müller-Spitzer. Sie leitet am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache das Projekt Empirische Genderlinguistik. Foto Marie J. Spitzer

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