lausebande-12-2021
78 › Titelthema fordern, komplexen Satzbau grundsätzlich zu vermeiden, weil er Texte für Lernende viel schwerer verständlich macht. Dies wird aber nicht gemacht. Kritiker einer gendergerechten Sprache verweisen gern auf das grammatische Genus. Was ant- worten Sie auf deren Kritik? Zunächst einmal kann man sagen, dass das grammatische Geschlecht in der Sprache und die Geschlechtsidentität einer Person (Gender, oder als biolo- gisches Geschlecht: Sexus) un- terschiedliche Kategorien sind. Aber: Bei Personenbezeich- nungen reflektiert das gram- matische Geschlecht oft die Ge- schlechtsidentität, weil sie uns in der Kommunikation wichtig ist. Es heißt nicht ohne Grund der Vater, der Bruder und der Onkel und die Mutter, die Schwester und die Tante. Man spricht von morphologischen (aus der Wortgestalt ableitbar) und semantischen (von der Wortbedeutung ableitbaren) Prinzipien der Genuszuwei- sung. Bei den Personenbezeich- nungen sind oft die semanti- schen Prinzipien bestimmend. Insofern greift das Schlagwort ‚Genus ist nicht gleich Sexus‘ im Kontext von Personenbe- zeichnungen zu kurz. Ein weiteres Argument kriti- siert, dass die gendergerechte Sprache nicht konsequent zu Ende gedacht sei. Sonst müsste es auch heißen „Zur Zeit der Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen…“ oder „Die Verbrecher und Ver- brecherinnen…“ Ein nachvoll- ziehbares Argument? Nein, es ist ja nicht so, als müsste man immer alles gen- dern. Zunächst einmal geht es ja um die Sichtbarmachung, darum, deutlich zu machen, dass man an alle Menschen denkt. Das kann man aber auch an einzelnen Stellen machen. Außerdem ist es ein kontinuier- licher Prozess der Veränderung, was wir geschlechtergerecht umformulieren und was nicht. Sehr gut hat das der Kollege Stefan Hartmann in einem Essay im Debattenportal wbg Community ausgedrückt: „Da es ja aber in erster Linie um Sichtbarmachung geht, konst- ruiert die Kritik an mangelnder konsequenter Umsetzbarkeit ein Problem, das es gar nicht gibt. Dass die Umsetzung ge- schlechtergerechter Sprache in ihrer Konsequenz variiert, zeigt auch, dass Sprecherinnen und Sprecher von ihrer Frei- heit Gebrauch machen, selbst die Balance auszuloten zwi- schen Sichtbarmachung von Geschlechterdiversität auf der einen Seite und persönlichem ästhetischem Empfinden auf der anderen.“ Was sind die wichtigsten Er- kenntnisse der Forschung zu den Auswirkungen genderge- rechter Sprache? Das ist natürlich schwer, so knapp zusammenzufassen. Vielleicht die für mich wich- tigsten Punkte: Die empirische Evidenz deutet darauf hin, dass die männliche Form (das soge- nannte generischeMaskulinum) nicht neutral ist, sondern im Sprachverstehen eher auf männ- liche Personen bezogen wird. Es spricht auch viel dafür, dass es kein Zufall ist, dass es etwas mit unserer androzentrischen Vergangenheit (der Ausrichtung auf den Mann als Norm) zu tun hat, dass wir den männlichen Formen generisches Potential zuweisen. Genauso war der ‚Normpatient‘ lange Zeit männ- lich, 75 kg schwer und Weiß, genauso wie der ‚Norm-Crash- test-Dummy‘ nur Varianten des männlichen Körpers abbildet, keinen weiblichen. Ich habe bei- spielsweise noch nie gelesen, dass einem femininen Grund- wort wie Braut oder Witwe ge- nerisches Potential zugewiesen wird. So müssten wir – analog zu „99 Lehrerinnen und ein Lehrer sind 100 Lehrer“ sagen „99 Witwer und eine Witwe sind 100 Witwen“. Das fordert aber interessanterweise niemand, dabei sind Braut und Witwe genauso Grundwörter mit sys- tematischer Genusdifferenzie- rung. Das heißt das generische Maskulinum ist nicht die neut- rale Folie, wie man es vielleicht gerne hätte. Außerdem deutet die empirische Evidenz darauf hin, dass Sprache einen Beitrag zu Chancengleichheit leisten kann. Hinzu kommt, dass ich mich mit meiner Sprache natür- lich auch positioniere. Wenn ich geschlechtergerechte Sprache verwende, mache ich damit deutlich, dass mir das Thema wichtig ist. Das kann gerade für öffentliche Institutionen ein wichtiges Argument sein. Sie raten zu mehr Gelassen- heit und Sachlichkeit in der Debatte. Wie ließe sich das aus Ihrer Sicht erreichen? Ganz wichtig scheint mir, dass wir uns auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren und nicht so sehr auf die Ver- gangenheit. Einige Menschen scheinen sich davon persönlich angegriffen zu fühlen, dass sie – wenn geschlechtergerechte Sprache wirklich wichtig ist – ihr gewohnter Sprachgebrauch irgendwie schlecht sei. Darum geht es aber gar nicht. Es geht auch nicht darum, alles in schnellem Tempo mitzumachen.
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