60 › Titelthema war für Sie der Auslöser, diesen Perspektivwechsel von „Vermeidung von Konflikt“ hin zu „Streit als Chance“ so deutlich zu formulieren? Durch meine Arbeit bekam ich einen intensiven Blick hinter die Kulissen vieler Unternehmen und Institutionen und damit einen Einblick in die Entstehung und Dynamik von Konflikten und war überrascht, wie „selbstverständlich“ aus handelbaren Problemen Krisen und auch manchmal Katastrophen wurden. Einfach, weil man dem Streit aus dem Weg ging. Anstatt für Klarheit zu sorgen, legte man den viel zitierten Teppich des Schweigens, des Ignorierens darüber, in dem stillen Einverständnis, dass so die Probleme schon verschwinden würden. Was – oh Wunder – in den seltensten Fällen passierte. Im Gegenteil, unter diesem Teppich gärte es, die Probleme bekamen eine Eigendynamik und brachen mit einer Wucht plötzlich unkontrolliert hervor. Meine langjährige Erfahrung zeigt: Wenn wir aus den Sackgassen herauswollen, müssen wir in die Auseinandersetzung hinein. Anstatt die Dysbalancen unter den Teppich zu kehren, gehören die Reibungsthemen auf den Tisch. Ich muss verstehen können, warum die Dinge in einer Schieflage sind, um sie anzugehen Ihr Buch trägt den Untertitel „Wie Auseinandersetzungen uns wieder zusammenbringen“. Das klingt paradox – Streit als Verbindung statt Spaltung. Wie kann dieser Perspektivwechsel in einer Gesellschaft gelingen, die in vielen Themen immer noch gespalten scheint. Wie Auseinandersetzungen uns zusammenbringen können, finde ich hingegen stringent. Streit hat ein schlechtes Image – zu Unrecht, sagt Birte Karalus. Im Interview verrät die Moderatorin und Autorin, wie Streit eine positive Kraft entfalten kann und was Eltern tun können, damit schon Kinder einen guten Umgang mit Konflikten lernen. Außerdem hat sie ein paar Erste-Hilfe-Tipps, falls es Weihnachten zum Zoff kommt. Sie arbeiten als Konsensfinderin und begleiten Konflikte in Unternehmen, Organisationen und im öffentlichen Raum. Was ist Ihrer Erfahrung nach der häufigste Grund, warum Konflikte eskalieren? Konflikte eskalieren, weil wir es schlichtweg nicht gelernt haben, uns zu streiten. Wir erleben die Kritik als fordernde Beschwerde, als Angriff, der oft ohne Vorwarnung gegen uns gerichtet wird und reagieren meist gekränkt mit einer Gegenoffensive. Gestritten wird zu spät, vorurteilsbehaftet und manchmal sogar unversöhnlich. Es wird nicht darauf geachtet, dass der richtige Zeitpunkt, der richtige Ort und die richtigen Worte gewählt werden. Somit ist die Chancen vertan, die Auseinandersetzung zu suchen, um zu verstehen, wo es knirscht, warum es so nicht weitergehen kann. Beziehungen und Bindungen können zerbrechen und vor allem geht viel Zeit verloren, um eine tragbare Lösung zu erstreiten. In Ihrem Buch „Lasst uns streiten!“ sprechen Sie von Streit als einem notwendigen Bestandteil gelingender Kommunikation – nicht als etwas, das per se vermieden werden sollte. Was Streit kann Menschen näher zusammenbringen © Manfred Baumann
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