lausebande-06-2023

52 › Titelthema Warum lesen Eltern Ratgeber? dreijährigen Tochter auf einer Wiese und beide betrachten den Zug der Wolken. Da erinnert sich die Mutter daran, dass sie in einem Ratgeber gelesen hat, man solle zur Sprachförderung des Kindes den Himmel verbal beschreiben – und schon erscheint ihr die banale Alltagssituation im Lichte einer Entwicklungsanregung, die sie dann prompt mit ihrer Tochter umsetzt. Welche Vor- und welche Nachteile haben Ratgeber? Grundsätzlich finde ich es immer einen Gewinn, wenn man sich bewusst mit dem auseinandersetzt, was man ohnehin im Alltag, in der Familie, im Beruf tut. So fördert man den reflektierten Umgang mit sich, seinen Mitmenschen und seiner natürlichen Umwelt. Das Wohlergehen von Kindern hängt in vielerlei Hinsicht auch vom Verhalten der Eltern ab, so dass eine Selbstaufklärung über die eigenen Erziehungsgrundsätze sicherlich nicht schaden kann. Einen Nachteil stellen Elternratgeber aus meiner Sicht aber eher dann dar, wenn man sich damit gerade diesen Prozess der bewussten Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten ersparen möchte und auf gleichsam technisch umzusetzende Ratschläge hofft, die irgendein „Problem“ beseitigen sollen. Ob Elternratgeber also eher Vorteile oder eher Nachteile aufweisen, hängt sehr stark davon ab, wie von ihnen Gebrauch gemacht wird. Abgesehen davon gibt es natürlich Ratgeber, die man heute nicht mehr lesen sollte, was aber auch kaum jemand tut: Johanna Haarer zum Beispiel. Man sieht daran insgesamt, dass sich in der Familienerziehung doch auch sehr vieles zum Positiven verändert hat, wenn ich auch persönlich die Tendenz zu einer aus elterlichen Projektionen, Ängsten und Wünschen sich speisenden Überbehütung von Kindern skeptisch sehe. Gibt es einen bestimmten Eltern-Typus, der eher zu Ratgebern greift? Von einem „bestimmten Typus“ würde ich nicht sprechen, aber Elternratgeber sind in der gehobeneren Mittelschicht, und zwar insbesondere bei Frauen, sehr stark verbreitet. In weniger begüterten Schichten mit einem niedrigeren Bildungsstand sind Elternratgeber in Buchform weniger verbreitet. Väter stehen Ratgebern eher skeptischer gegenüber und vertrauen – das ist ein Befund, der mich zunächst überrascht hat – eher auf ihre intuitiven Kompetenzen, während Mütter häufiger der Diese Frage hat der Soziologe Dr. Christian Zeller wissenschaftlich untersucht und damit Forschungsneuland betreten. Im Interview verrät Dr. Christian Zeller nicht nur, welchen Mehrwert Ratgeber für Eltern haben, sondern auch, welche Themen besonders gefragt sind und warum Väter seltener zu Ratgebern greifen als Mütter. Um den Titel Ihres Buchs aufzugreifen: Warum lesen Eltern Ratgeber? Zu dieser Frage habe ich eine explorative Studie unternommen, eine Studie also, die ein Forschungsfeld erst einmal sondiert, weil bis dahin keine oder nur geringe Erkenntnisse vorlagen. Ich habe sechs Interviews mit Müttern geführt, die Elternratgeber zur Erziehung ihrer Kinder lesen. Bei der Auswertung der Interviews stellte sich heraus, dass sich die Mütter mit Hilfe der Elternratgeber von der Erziehung ihrer eigenen Eltern abgrenzen, um die Erziehung ihres Kindes noch kindzentrierter zu gestalten und noch mehr auf dessen Bedürfnisse, Wünsche und Talente einzugehen. Dieser Befund bedeutet, dass die Kindzentrierung in der Erziehung ein sehr lang anhaltender Trend ist, der sich auch dann noch fortsetzt, nachdem mit den gesellschaftlichen Veränderungen in den 1960er-Jahren bereits sehr starke Liberalisierungsschübe auch in der Familienerziehung erreicht worden sind. Die Eltern der von mir befragten Mütter wiederumgehörten ja bereits einer Generation an, in der autoritäre Erziehungsmuster bereits deutlich erodiert waren. In welchen Situationen suchen Eltern typischerweise den Rat eines Erziehungsratgebers? Abgehandelt werden in Elternratgebern sämtliche Situationen, die in der Erziehung relevant sind: Von Sauberkeitserziehung bis hin zu Pubertätskrisen reicht die Bandbreite, und Eltern suchen sicherlich zu all diesen konkreten Situationen Unterstützung, wenn sie einen Elternratgeber zu Rate ziehen. In meiner Studie haben die befragten Mütter allerdings weniger bei akuten Krisen auf Elternratgeber zurückgegriffen, sondern vielmehr zielten sie darauf ab, mit den Ratgebern ihre eingeschliffene Wahrnehmung auf den alltäglichen Umgang mit ihrem Kind so aufzubrechen, dass darin neue pädagogische Anregungen – und damit: das Potenzial zur Förderung ihrer Kinder – aufschienen. Eine Mutter etwa erzählte mir folgende Episode: Sie liegt mit ihrer

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