lausebande-06-2023

Titelthema ‹ 53 Auffassung sind, sie müssten sich von Elternratgebern anleiten lassen. Diese geschlechtsspezifische Divergenz lässt sich psychologisch so erklären, dass Männer im Durchschnitt dazu neigen, eine größere Selbstgewissheit bezüglich ihrer wahrgenommenen Kompetenzen auszubilden, während Frauen im Durchschnitt eher an sich zweifeln und angesichts der immer noch großen Unterschiede bei der faktischen Erziehungsverantwortung zwischen den Geschlechtern auch unter einem größeren Druck stehen, es mit ihren Kindern „richtig zu machen“. Die Betonung, dass es sich hier um Durchschnittswerte handelt, ist wichtig. Denn es gibt selbstverständlich eine hohe Varianz auch innerhalb des jeweiligen Geschlechts, also: Männer, die zur Selbstinfragestellung neigen und Frauen, die sehr selbstbewusst bezüglich ihrer eigenen Fähigkeiten sind. Lässt sich sagen, ob Ratgeber nur gelesen oder ihre Ratschläge auch praktisch umgesetzt werden? Die Ratschläge werden umgesetzt, aber die Umsetzung wird von vielen Faktoren gebrochen und modifiziert. Dazu gehören eigene, tief angelegte, zumeist durch die eigene Kindheit erworbene Überzeugungen bezüglich Erziehung, aber auch ganz banale situative Faktoren: Wenn der Erziehungsratschlag lautet, die Kinder bei Entscheidungen miteinzubeziehen, aber vor dem Arztbesuch Zeitdruck herrscht, dann wird das zügige Anziehen der Schuhe auch schon einmal „autoritär“ befohlen. Ein weiterer Faktor, der die Umsetzung von Ratschlägen bisweilen behindert, ist die Widersprüchlichkeit mancher Erziehungsratgeber untereinander. Wenn Eltern widersprechende Informationen bekommen, dann besinnen sie sich auf ihre intuitiven Kompetenzen, weil man ja nicht Ratschlag A und sein Gegenteil zugleich befolgen kann. Erziehungsratgeber können unterschiedliche Schwerpunkte setzen: Schlafen, Förderung, Geschwisterbeziehungen, Medienkonsum. Gibt es ein Bestseller-Thema, das über die Jahre immer wieder von Eltern nachgefragt wird? Das hängt stark vom Alter des Kindes ab: Bei Säuglingen ist „Schlafen“ ein Dauerbrenner, bei größeren Kindern das „Grenzen-setzen“ und die Schule, bei Jugendlichen pubertätsbedingte Konflikte mit den Eltern. Sie schreiben in Ihrem Buch: „Der Rückgriff auf Elternratgeber in Buchform ist bereits zur Normalität im Umgang mit dem eigenen Nachwuchs geworden.“ Was sind die Gründe dafür? Die Gründe hierfür sind sehr vielgestaltig und sie haben tiefe historische Wurzeln. Vor der Epoche der Aufklärung gab es in breiten Bevölkerungsteilen, insbesondere in bäuerlichen Schichten, keine „Erziehung“ im heutigen Sinne – also das bewusste Heranführen von Kindern an Wertmaßstäbe und Normen. Diese waren vielmehr so unhinterfragt vorausgesetzt, dass sie die Kinder einfach durch ein weitgehend unreflektiertes „Mitleben“ erlernten. Mit der Aufklärung bröckelt diese Praxisform zunehmend – der Mensch wurde nun von Philosophen wie Turgot, Kant, Herder oder Humboldt als Wesen gesehen, dass sich selbst perfektionieren kann, und auch die religiöse Absicherung traditioneller moralischer Normen schwand. In einer solchen gesellschaftlichen Situation muss nun bewusst und umfassend „erzogen“ werden, was in Rousseaus Erziehungsroman Émile das erste Mal durchgestaltet wird. Auch muss der Nachwuchs in einer Gesellschaft, deren ökonomisches und politisches System sich sehr stark ausdifferenziert, bewusst im sozialen Gefüge platziert werden. Deshalb entstehen im 19. Jahrhundert auch Elternratgeber, die sich auf das Thema der Förderung und Bildung von Kindern konzentrieren. All diese tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen erleben wir als Zeitgenossen wiederum als „die Normalität“. Deshalb sind auch Elternratgeber, die darauf abzielen, dass Eltern den Erziehungsprozess ihrer Kinder bewusst gestalten, zur Normalität geworden. Wir haben den Umgang mit der komplexen, modernenWelt so weit verinnerlicht, dass für uns auch die Nachfrage nach Beratung – übrigens nicht nur im Bereich der Familie – selbstverständlich geworden ist. Spielen Ratgeber heute also eine andere Rolle als noch vor 50 Jahren? Vor 50 Jahren, also in den 1970er Jahren, waren in vielen deutschen Haushalten auf der einen Seite noch Elternratgeber verbreitet, die stark von der Nazi-Erziehung geprägt waren - etwa Johanna Haarers „Die Mutter und ihr erstes Kind“, das nach dem Zweiten Weltkrieg trotz [...] [... das vollständige Interview online auf lausebande.de]

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