Alles Knigge oder was?

Datum: Donnerstag, 28. März 2024 16:02

An unserem Kühlschrank hängt eine Postkarte mit dem Spruch: „Unser tägliches Kulturprogramm: morgens Zirkus, abends Theater.“ Wer zum ersten Mal Eltern wird, verabschiedet sich ganz schnell von den erlernten Benimmregeln und Tischsitten. Nehmen wir Pünktlichkeit. Diese deutsche Tugend lässt sich nur ganz schlecht mit den Grundbedürfnissen eines Neugeborenen vereinbaren. Das will Milch, wenn es Hunger hat und Trost, wenn es Kummer hat – und in der Regel geht das nicht mit den Terminen im Familienkalender einher. Wenn das Kind etwas größer ist, kann es auch mal eine halbe Stunde warten bis zum Essen. Dafür kommen neue ungeahnte Hürden auf die Eltern zu. Denn natürlich will die Dreijährige den Reißverschluss der Jacke allein schließen und der Fünfjährige die Schnürsenkel allein zubinden. Das ist der Grund, warum Eltern vor Terminen im Idealfall immer reichlich Puffer einplanen. Die Lehre habe ich früh erteilt bekommen. Wenn wir den Zwerg mit viel Mühe in Schneeanzug, Stiefel, Schal, Mütze und Handschuhe gepackt hatten und ich selbst längst im Mantel völlig durchgeschwitzt war, obwohl wir noch nicht einmal die Wohnung verlassen hatten, kam natürlich der Satz: „Ich muss auf Toilette.“ Geht das vielleicht etwas später? „Nein, jetzt. Gaaanz dringend!“ Das mit der Pünktlichkeit bekommen wir mittlerweile schon besser hin.

Etwas schwieriger ist das mit den Tischmanieren. Die erste Tischregel, von der wir uns als frischgebackene Eltern verabschieden mussten, war diese: Wir beginnen und beenden die Mahlzeit gemeinsam. Ein Säugling schert sich nicht um die Essenzeiten der Eltern. So kam es also immer wieder vor, dass wir froh waren, wenn wenigstens einer von uns seine Mahlzeit ohne Unterbrechung einnehmen konnte. Als junge Mutter habe ich zudem eine neue Fähigkeit erlernt: Ich konnte jahrelang erstaunlich viele Dinge mit nur einem Arm erledigen: Schnitte schmieren, Wasser eingießen, Mandarine schälen. Der andere Arm war durch ein nähebedürftiges Quengelchen belegt.

Mittlerweile kann ich wieder beide Arme benutzen. Was uns noch immer nicht so richtig gelingt, ist der gemeinsame Beginn der Mahlzeit. Wenn wir zu Tisch rufen, kommen drei Nimmersatt-Raupen an den Tisch, die offenbar viel zu lange nichts mehr zu essen hatten und die auch noch große Angst haben, dass die Vorräte auf dem Tisch nicht für alle reichen. Noch bevor wir uns einen „Guten Appetit“ wünschen können, haben die Kinder Messer und Gabel zu Schwert und Schild umfunktioniert und kämpfen wahlweise um das größte Kuchenstück oder die schönste Tomate (ehrlicherweise ist es meist der Kuchen, um den sie erbittert streiten, eher selten die Tomate).

Immerhin haben sich die Tischsitten in einer Hinsicht schon etwas verbessert: Während der Boden bei vielen Menschen so sauber ist, dass man davon essen könnte, sieht unser Boden unter dem Esstisch meist eher so aus, als würden wir davon essen. Doch immer öfter gelingt es unseren Kindern, dass sie auf den Teller statt auf den Tisch oder den Boden kleckern. Ich bin guter Dinge, dass sie alsbald auch die hohe Kunst des Essens ganz ohne Kleckern und Krümeln beherrschen.

Unsere zweite große Knigge-Challenge beginnt regelmäßig im Zug. Den nutzen wir gerne für längere Entfernungen, erspart er uns doch das dauernde „Wann sind wir endlich da?“, „Ich hab Hunger.“, „Ich muss auf Toilette“ von der Autorücksitzbank. Allerdings ist jedes Zugabteil in den Augen unserer Kinder ein großer Abenteuerspielplatz, der sich wunderbar zum Verstecken, Klettern und Fangespielen eignet. Fangespielen konnten wir erfolgreich unterbinden. Verstecke und Klettern sind nur erlaubt, wenn wir das Abteil für uns allein haben. Immerhin ziehen sie dafür von ganz allein die Schuhe aus. Ein wenig Knigge haben sie also doch schon verinnerlicht.

Kolumne von Anett Linke, Redakteurin der lausebande