Sprechzimmer statt Klassenzimmer

Datum: Donnerstag, 29. März 2018 15:33

"Kinder haben kaum Berührungsängste"

Karin Gärtner leitet den Klinikunterricht am Carl-Thiem-Klinikum und unterrichtet dort junge Patienten. Im Interview erzählt sie, warum Offenheit im Umgang mit chronischen Erkrankungen oft der beste Weg für Eltern, Kinder und Lehrer ist und wie befreundete Familien helfen können.

Was sind aus Ihrer Erfahrung die größten Herausforderungen für Familien mit chronisch kranken Kindern?

Jede Familie, die erfährt, dass ihr Kind chronisch krank ist, steht aus meiner Sicht vor drei großen Herausforderungen: die besondere Situation akzeptieren, annehmen und lernen, damit zu leben.

Wo bräuchten die Familien mehr Unterstützung?

In der Anfangsphase werden die Familien sehr gut betreut. Da stehen im stationären Bereich Ärzte, Psychologen, Therapeuten, auch Lehrer immer zur Seite. Sind die Familien wieder zu Hause, müssen sie den Alltag allein meistern. Oft treten dann weitere Fragen und Hürden auf. Hier wären Ansprechpartner sinnvoll, die unkompliziert kontaktiert werden können und schnell Hilfe anbieten. In einigen Fällen sind Selbsthilfegruppen solche Ansprechpartner.

Wie sind Schulen im Raum Cottbus im Umgang mit chronisch kranken Kindern aufgestellt?

Vor ein paar Jahren gab es ein Forschungsprojekt der Uni Potsdam mit dem Namen „Netzwerk Schule und Krankheit“. Während dieses Projektes wurde eine Broschüre entwickelt, die eine Vielzahl chronischer Erkrankungen vorstellt und den Lehrerinnen und Lehrern gleichzeitig aufzeigt, wie sie mit diesen Erkrankungen im Schulalltag umgehen können. Alle Brandenburger Schulen haben diese Broschüre erhalten und wurden für dieses Thema sensibilisiert. In der Sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstelle des Staatlichen Schulamtes Cottbus bin ich als Ansprechpartnerin für chronisch kranke Schülerinnen und Schüler tätig. Auch die Sonderpädagogen der jeweiligen Einrichtungen unterstützen aktiv die Familien. Seit anderthalb Jahren gibt es zudem an zwei Cottbuser Grundschulen in einer Pilotphase eine Schulgesundheitsfachkraft, im täglichen Sprachgebrauch auch Schulkrankenschwester genannt. Damit ist ein Anfang gemacht. Durch meinen Kontakt zu vielen Schulen, weiß ich, dass der Wunsch nach so einer Fachkraft an allen Schulen wächst.

Sie leiten den Klinikunterricht am CTK – wie kann man sich den Unterricht bei Ihnen vorstellen? Ist er vergleichbar mit dem Unterricht an einer „normalen“ Schule?

Der Klinikunterricht bedeutet für die kleinen und großen Patienten Normalität in ihrem Alltag. Eine Formulierung der Münchener Kollegen hat sich ganz fest bei mir eingeprägt. „Klinikunterricht ist die Schnur zum Leben!“ Wir begleiten die Kinder und Jugendlichen während ihres Klinikaufenthaltes, wenn die Mediziner die Kinder für die „Schule“ anmelden. Unser Kollegium ist gut aufgestellt und kann (fast) alle Fächer der Grundschule, fast alle der Sekundarstufe I, einige auch für die Sekundarstufe II anbieten. Die Kinder und Jugendlichen erhalten täglich maximal 2 bis 3 Stunden Unterricht, werden in Kleingruppen oder falls medizinisch notwendig auch einzeln unterrichtet. In Absprache mit den Stammschulen werden die Unterrichtsinhalte der jeweiligen Klassen vermittelt. Bleiben Patienten sehr lange in der Klinik, erhalten sie auch Noten, die dann an die Stammschule übermittelt werden. Da überwiegen Einsen bis Dreien. Die individuelle Förderung zahlt sich aus.

Wie gelingt nach einem Klinikaufenthalt am besten die Rückkehr an die Regelschule?

Nach längeren Klinikaufenthalten wird die Rückkehr in die Stammschule durch die Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam mit den Eltern vorbereitet. Wir haben eine entsprechende Verwaltungsvorschrift, die bestimmte Regularien vorsieht. Manchmal finden Gespräche mit den Klassenlehrern in der Klinik statt, manchmal fahren wir gemeinsam mit den Therapeuten in die Stammschulen. Sehr gute Erfahrungen haben wir mit dem Vorstellen der Krankheitsbilder in den Klassen- oder Lehrerkonferenzen. Besonders spannend sind Unterrichtsstunden zu den Krankheitsbildern. Davon profitiert dann nicht nur das chronisch kranke Kind, sondern die ganze Klasse.

Manche Eltern und Kinder sind unsicher, wie offen sie mit der Erkrankung umgehen sollten, v.a. in Kita und Schule – was empfehlen Sie?

Ja, diese Frage wird uns sehr häufig gestellt. Aus meiner Sicht ist es immer hilfreich, mit offenen Karten zu spielen. Wenn Lehrerinnen und Lehrer Kenntnis von der Erkrankung haben, können sie die Eltern zum Nachteilsausgleich beraten und bei Bedarf auch die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs empfehlen. Vor allen Dingen können sie sich dem Kind als Ansprechpartner anbieten.

Viele der betroffenen Kinder hadern einerseits mit ihrer Sonderstellung, die sie eigentlich gar nicht wollen, die sie aber andererseits brauchen – wie kann hier der Spagat am besten gelingen?

Im Grundschulalter gibt es da kaum Berührungsängste. Anders ist es bei Jugendlichen. Diese wollen oft nicht im Mittelpunkt stehen und Sonderregelungen für sich in Anspruch nehmen. In vertrauensvollen Gesprächen versuchen wir dann zu erklären, dass die entsprechenden, schulischen Unterstützungssysteme nur greifen, wenn die Erkrankung bekannt ist. Jugendliche, die sich dagegen entscheiden, leben ganz bewusst mit den Konsequenzen. Ich habe schon erlebt, dass eine Schülerin auf eine Schreibzeitverlängerung verzichtet hat. Ihr war das Normalsein wichtiger als die bessere Zensur. Das mussten die Eltern und auch wir dann respektieren.

In der Theorie gibt es mit dem Nachteilsausgleich bereits Unterstützung für chronisch kranke Kinder. In der Praxis wird das aber nicht immer umgesetzt, sei es weil das Lehrpersonal durch große Klassen ohnehin überfordert ist oder weil das Kind zu schüchtern ist, diese auch immer einzufordern. Wie kann hier in der praktischen Anwendung mehr Gerechtigkeit erreicht werden?

Nachteilsausgleiche sind in Brandenburg ganz klar durch Verordnungen geregelt. Dafür sind durch die Eltern entsprechende Anträge zu stellen. Werden Nachteilsausgleiche bewilligt, sind diese auch für alle Lehrkräfte verbindlich. Ich gebe Ihnen Recht, dass es leider vereinzelt auch passiert, dass Kinder ihre Lehrer daran erinnern müssen. Ein praktischer Hinweis wäre, im Klassenbuch den Nachteilsausgleich zu vermerken.

Was kann man machen, um Lehrer und Erzieher besser auf den Umgang mit chronisch kranken Kindern vorzubereiten?

Das geht, glaube ich, nur über den Weg der Fortbildung, jedoch nicht nach dem Gießkannenprinzip. Einfach allgemeine Informationen zu vermitteln, bringt keinen Erfolg. Wir lernen nur, wenn uns etwas unmittelbar interessiert bzw. wir davon betroffen sind. So ist es auch hier. Die Lösung heißt daher: Fortbildung am konkreten Beispiel. Wenn ein Kind der Schule eine chronische Erkrankung hat, dann macht Beratung Sinn. Inzwischen werden wir von Schulen ganz konkret angefragt. Auch die Kliniken des Landes bieten vielfältige Fortbildungen für die breite Öffentlichkeit an. Im Carl-Thiem-Klinikum gibt es jährlich eine Fortbildung für Biologielehrer, die von einer engagierten Fachkollegin organsiert wird.

Braucht es mehr rechtliche Grundlagen für die Unterstützung von Familien mit chronisch kranken Kindern und wenn ja: Wie könnten diese aussehen?

Wie schon oben erwähnt, sind die rechtlichen Bedingungen in Brandenburg schon recht gut. Was ich mir wünsche, ist die Fortsetzung und Ausweitung des Pilotprojektes der Schulgesundheitsfachkraft. Wir brauchen diese Fachkräfte in jeder Schule!

Was können Familien mit gesunden Kindern tun, wenn ihre Kinder Freunde bzw. Mitschüler mit chronischen Erkrankungen haben?

Dafür gibt es eine einfache Antwort. Die Freunde der Kinder akzeptieren und ganz NORMAL mit ihnen umgehen. Sicherlich ist es notwendig, sich mit den Eltern der Freunde zu unterhalten, worauf geachtet werden soll und muss. Ich denke, das Herz an der richtigen Stelle und keine Angst vor Unbekanntem sind hier die besten Begleiter. In der Bauhausschule wird seit Jahren ein tolles Lied gesungen. „Jeder ist anders…“ Und wenn wir genau hinschauen, dann ist dies nicht nur bei Kindern so!

Viele Eltern von chronisch kranken Kinder beklagen Unverständnis und Unwissenheit von anderen. Wie ließe sich das Verständnis für die Situation chronisch kranker Kinder verbessern?

Ich verstehe die Not der betroffenen Familien. Jedoch ist der Mensch vor allem dann mitfühlend, wenn er eigene Erfahrungen gemacht hat, persönlich oder auch bei Angehörigen. Somit erklären sich Unwissenheit und Unverständnis. Das Erste kann jeder ändern, wenn er dazu bereit ist. Das Zweite bedarf der Aufklärung. Dafür brauchen wir ein Netzwerk von Multiplikatoren. Es gibt bereits viele Selbsthilfegruppen, in denen Eltern sich gegenseitig unterstützen und auch in der Öffentlichkeit als „Anwälte“ ihrer Kinder auftreten.


www.ctk.de