Schul-Spezial Teil 1: "Alles PISA oder was?"

Datum: Freitag, 23. August 2013 12:02


Kritik am Bildungssystem
Auch wenn Deutschland seit dem PISA-Schock in Sachen Bildung viel verbessert hat, bestehen noch immer die gleichen Kritikpunkte: Unsere Schulen sind nicht leistungsfähig genug und produzieren zu viele Bildungsverlierer mit schlechten oder gar keinen Abschlüssen. Unser Bildungssystem ist vor allem ungerecht, nirgends sonst ist der Bildungserfolg so sehr an den sozialen Status gebunden wie in Deutschland. Deutschland entlässt mehr Jugendliche mit einer unzureichenden Grundbildung aus dem Schulsystem als die meisten anderen Industrienationen. Als direkte Folgen kann man Milliardenausgaben für Arbeitslose, ca. 1/3 Drittel der Kriminalitätsdelikte und viele weitere Effekte sogar berechnen. Auch der künftige Fachkräftemangel wird daran nichts ändern, da die Anforderungen selbst an einfache Berufsbilder beständig steigen und Bildung heute auch bei Facharbeitern wichtiger denn je ist. Schlechte Bildung und schlechte Schulabschlüsse belasten die gesamte Gesellschaft.
Manch bildungsstarke Familie mag sich da zurücklehnen und beruhigt auf die rosige Zukunft des eigenen Nachwuchses vertrauen. Allerdings hat PISA auch das gezeigt: Wir haben in Deutschland nicht nur eine viel breitere Leistungsstreuung, sondern auch viel weniger Breite in der Leistungsspitze. Während Deutschland mit 8 Prozent „Spitzenwissern“ im internationalen Durchschnitt blieb, sind es in Finnland mit 15 Prozent fast doppelt so viele. Auch wenn Länder wie Finnland oder Kanada leistungsschwächere Schüler deutlich besser fördern, gelingt es ihnen offensichtlich, auch das Potenzial der Leistungsstarken besser zu entfalten.
Die Hauptkritik richtet sich vor allem an die relativ kurze Zeit gemeinsamen Lernens in unserem System. In den meisten westlichen Bundesländern endet die gemeinsame Grundschulzeit bereits nach der vierten Klasse und bereits dann erfolgt die Auslese, wer den Weg zum Abitur und wer den zu einem einfacheren Abschluss gehen wird. Mit dieser frühen Trennung steht Deutschland mit Österreich allein in Europa da, in allen anderen Ländern wird länger gemeinsam gelernt. In Brandenburg sind es immerhin sechs Grundschuljahre, aber auch hier wird dieser Vorteil immer stärker durch Leistungs- und Begabungsklassen aufgeweicht. Dadurch gehen den Grundschulen ebenso früh Leistungsträger verloren, die einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Klasse nehmen können. Umgekehrt beginnt bei den leistungsstarken Kindern sehr früh eine oft eingeschränkte Spitzenförderung in einer homogenen Klasse, sodass soziale Kompetenzen und die heterogene Lebenswirklichkeit in ihrer Schule oft nicht mehr stattfinden. Damit sind Kompetenzen schwerer erlernbar, nach der unsere heterogene Gesellschaft später verlangt. In jedem Fall ist unser Bildungssystem nach der Trennung in Abiturienten und einfache Bildungsabschlüsse kaum durchlässig, viel zu selten gelingt Kindern der Aufstieg von einem einfacheren Abschluss zum Abitur. Viele Studien haben zudem belegt, dass Kinder bildungsstarker Haushalte durch das System stark bevorzugt werden. Inzwischen ist das deutsche Gymnasium mit über 50 Prozent der Schüler zur neuen Gesamtschule der Mittelschicht geworden, es spiegelt kaum noch eine Leistungsspitze wider, wie das früher der Fall war.
Die Beschleunigung im Abitur auf 12 Jahre tut ihr übriges und wird heute vielfach kritisch bewertet. Zum einen erschwert die Verdichtung des Stoffs an den Gymnasien die Aufstiegsmöglichkeit für Schüler von einfacheren Schulformen und zementier damit die soziale Schieflage im Bildungssystem, zum anderen bleibt bei dem zunehmenden Zeitdruck die Vermittlung vieler Kompetenzen auf der Strecke. Erste Rückmeldungen von Hochschulen machen eine verminderte Studierfähigkeit der Kurzzeit-Abiturienten aus. Jugendlich, die mit 17 Jahren ihr Abi in der Tasche haben und im Schnelldurchgang studieren, scheinen mit Anfang 20 meist gar nicht in der Lage, ernsthaft Führungsaufgaben wahrzunehmen.
Beim PISA-Gewinner Finnland lernen Kinder bis zur 10. Klasse gemeinsam. Dort und vor allem in Kanada hat man vor allem eine Kompetenz, die in unserer Bildung noch längst nicht angekommen ist: Das individualisierte Lernen bzw. die individuelle Förderung. Darunter sind Methoden zu verstehen, mit denen es Lehrern möglich ist, jedes Kind nach seinem Leistungsvermögen individuell zu fördern. An deutschen Schulen ist der Unterricht hingegen meist noch am Durchschnitt ausgerichtet, die schlechten kommen nicht hinterher, die besten langweilen sich. Dabei sind die neuen Methoden nicht unbedingt mit mehr Personal verbunden. Viele Eltern können sich das bei uns gar nicht vorstellen: Aber es funktioniert andernorts. Genau diese individuelle Förderung ist auch der Schlüssel zur Inklusion. Inklusion wird in der Diskussion um unser Bildungssystem leider immer noch mit der Integration Behinderter gleich gesetzt. Dabei geht es vielmehr um die zunehmende Vielfalt in den Klassenzimmern, um das Miteinander leistungsstarker, behinderter, lernschwacher, verhaltensauffälliger oder vernachlässigter Kinder. Diese Heterogenität hat in deutschen Klassen zugenommen – und darauf muss das Bildungssystem mit individueller Förderung reagieren. Das ist vor allem durch eine veränderte Fort- und Ausbildung der Lehrer möglich. Hier passiert noch viel zu wenig.
Ein weiteres Manko an deutschen Schulen ist auch das klassische Bild des Lehrers als Alleinkämpfer. Viel zu wenig wird an den Schulen das Teamwork gelebt, Lehrer können nicht Hand in Hand mit Sozialarbeitern und Sonderpädagogen arbeiten, die es bei uns wie z.B. in finnischen Schulen kaum gibt. Auch eine Überprüfung der Lehramtsstudierenden auf Eignung findet nicht statt. In Deutschland weisen schon viele Lehramtsstudenten und Referendare Symptome eines späteren Burn-outs auf: Ein Viertel von ihnen fühlt sich schon vor dem eigentlichen Berufsstart überfordert. Laut einer aktuellen Allensbach-Umfrage fühlt sich jeder zweite Lehrer schlecht auf seinen Beruf vorbereitet, das gilt insbesondere für Gymnasiallehrer. Unter den Lehrern, die weniger als fünf Jahre unterrichten, empfanden über 60 Prozent ihre Ausbildung als unzureichend. Sie bemängeln nicht Didaktik und Pädagogik, sondern dass die Ausbildung nichts über den Umgang mit Kindern und Eltern vermittelt. Die deutsche Lehrerausbildung ist zu wenig an der Berufspraxis ausgerichtet – laut OECD-Lehrstudie spielt der Praxisbezug im deutschen Lehramtsstudium nur eine untergeordnete Rolle. Wen wundert es da, dass viele Lehrer dem Umgang mit Schülern und Eltern nicht gewachsen sind. Auch die zunehmende Heterogenität in den Klassen bereitet Lehrern Probleme, da sie in der Ausbildung nicht die notwendigen Methoden für eine individuelle Förderung erlernt haben, hier kann man den Lehrern auch keinen Vorwurf machen. Der Zustand der deutschen Lehrerschaft schürt auch Widerstände gegen Veränderung: Bei einer PISA-Umfrage kam heraus, dass Deutschlands Schulleitungen es als das zweitgrößte Problem unserer Schulen ansehen, dass es im Kollegium so viel Widerstand gegen Veränderungen gibt. Schon im Jahr 2006 zeigte die Lehrerstudie der Uni Potsdam, dass lediglich 17 Prozent der Lehrer zufrieden und gesundheitlich auf der Höhe sind, hingegen knapp zwei Drittel in den Risikogruppen als gesundheitsgefährdet, erschöpft, ausgebrannt und eingeschränkt bzw. nicht mehr belastbar eingestuft wurden. Da die Ausbildung zum Lehrer aber kaum Beschäftigungsalternativen zulässt, steigen viele mit den entsprechenden Konsequenzen für Schüler und Schule trotzdem in den Lehrerberuf ein und halten irgendwie durch. Spitzennationen in Sachen Bildung testen Lehrerkandidaten mit effektiven Mechanismen, in Finnland werden angehende Studenten mit einem mehrstufigen Aufnahmeverfahren auf Eignung überprüft.
Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt am deutschen Schulsystem besteht in der mangelnden Vermittlung von Methoden-Kompetenzen. Es mag komisch klingen, aber Bildungsexperten fordern als zentrale Kompetenz für heutige Schüler das „Lernen lernen“. In unserer flexiblen Arbeitswelt überholt sich Faktenwissen schnell. Viel wichtiger ist es, Methoden zu erlernen, wie man sich Wissen aneignet und wie man es anwendet. In der Kurzformel: Weniger Wissen besser anwenden. Stattdessen wird bei uns aber noch zu viel gepaukt, endloser Stoff abgefüllt und überprüfbares Faktenwissen vermittelt, dass nach ein paar Wochen vergessen ist. Das beginnt schon in der Grundschule. Selbst im Abitur sind wir Deutschen auf hochkomplizierte Aufgaben stolz, während in finnischen Abiturprüfungen auch mal der Dreisatz aus der Grundschulzeit mit abgeprüft wird. Nur wenn die Lehrpläne um unnützes Wissen entrümpelt werden und Kinder Lernen lernen und sich selbst Wissen sinnvoll erschließen können, ist die individuelle Förderung einer heterogenen Klasse überhaupt möglich. Nur wenn Kinder eigenverantwortlich lernen, können Lehrer besser auf unterschiedliche Wissensstände eingehen. Wie sehr das Schulsystem hier versagt, beweist allein die Branche der Nachhilfeinstitute auch in unserer Region. Deutsche Eltern geben im Jahr 1,5 Milliarden Euro für Nachhilfe aus – und das sind dann schon die eher leistungsbereiten Kinder. Sozial Benachteiligte können sich Nachhilfe erst gar nicht leisten, das Defizit der Schulbildung liegt demnach um ein Vielfaches höher. 57 Prozent des Nachhilfeunterrichts entfallen auf Mathematik, was auf einen deutlichen Fehler in der Vermittlung und übertriebenen Bedeutung der Mathematik im gesamten Bildungssystem hinweist.

Natürlich gibt es darüber hinaus viele Themenfelder, die heiß diskutiert werden. Zum einen verstehen viele Eltern nicht den Sinn des Schreibenlernens mit dem lautgetreuen Schreiben. An anderen Schulen wird wiederum keine Schreibschrift mehr vermittelt, sondern nur noch eine Grundschrift. An schlecht geführten Schulen können sogar in Parallelklassen unterschiedliche Methoden zur Anwendung kommen und beim Lehrerwechsel wieder über den Haufen geworfen werden, weil der neue Lehrer andere Methoden bevorzugt. All das hat aber mit der Methodenvielfalt an deutschen Schulen zu tun, die an sich nicht schlecht ist. Bei all diesen Themenfeldern geht es vielmehr um die Autonomie einer Schule und ihrer Freiheit zur Wahl zwischen verschiedenen Methoden, die alle zum Erfolg führen sollen – sowie um das Teamwork unter den Lehrern. Gute Schule erkennt man heute vor allem daran, das alle Beteiligten an einem Strang ziehen und ein gesundes Miteinander von Schulleitung, Lehrern und Eltern herrscht. Wenn unterschiedliche Methoden zu Problemen führen, hat das meist mit mangelnder Abstimmung an der jeweiligen Schule zu tun. Denn zumindest von dieser Kritik kann man unser Bildungssystem frei sprechen: Es gängelt die Schulen nicht, denn letztendlich macht jede Schule nach groben Vorgaben ihren eigenen internen Lehrplan und kann selbst Methoden und Wege der Wissensvermittlung festlegen. Eltern können an diesen Entscheidungen über ihre Mitwirkung als Klassenelternsprecher und über die Schulkonferenz sogar teilhaben. Wenn Kinder nach der vierten oder fünften Klasse nicht richtig schreiben, hat das nicht nur mit der jeweiligen Methode zu tun. Dann hätten Eltern viel früher einschreiten und das Problem mit Lehrern und Schule klären müssen.
Auszudiskutieren, welchen Sinn es macht, anstatt der Schreibschrift nur noch eine vereinfachte Grundschrift zu vermitteln, würde hier den Rahmen sprengen. Dahinter steckt der Versuch, die persönliche Handschrift bei Kindern mit dem Zwischenschritt über die Grundschrift einfacher zu entwickeln als über das komplizierte Erlernen der Schreibschrift. Sozusagen entwickeln Kinder ihre persönliche Handschrift mit einem Zwischenschritt direkt aus Druckbuchstaben. Daran wird allerdings auch viel Kritik geübt. Ebenso beim lautgetreuen Schreiben und dessen Erlernen mit der Anlauttabelle. Nicht umsonst wird diese Methode in einigen Bundesländern als alleinige Methode bei der Vermittlung des Schreibens untersagt. Nicht wenige Bildungsexperten machen das lautgetreue Schreiben dafür verantwortlich, dass sich die Rechtschreibung deutscher Schüler katastrophal verschlechtert hat. Herkömmliche Fibelklassen zeigten in Tests durchgängig bessere Ergebnisse und das lautgetreue Schreiben ist scheinbar wissenschaftlich kaum evaluiert. Die Methode an sich kann Schülern aber auch helfen, hier sind wir wieder bei der individuellen Förderung. Wie so oft können viele Wege nach Rom führen, es wäre Eltern aber sicher eine Hilfe, wenn es mehr Klarheit über diese Wege und die richtige Wahl gäbe. Dazu sind leider weder in Brandenburg noch anderswo verständliche Erklärungen zu finden.
Wie bei den Methoden gibt es auch bei Schulbüchern inzwischen eine kaum überschaubere Vielfalt – allein in Brandenburg haben Schulen die Wahl unter zwölf Verlagen und insgesamt 48 verschiedenen Titelreihen für die Vermittlung des Lesens und Schreibens. In den Grundlagenfächern werden Schulbücher dabei durch mehrere unabhängige Gutachten geprüft und erst dann zugelassen, in einigen Fächern reicht eine Zusicherung des jeweiligen Verlages, dass die Zulassungsvoraussetzungen erfüllt werden. Sämtliche Bücher entsprechen somit den Vorgaben des vom Land festgelegten Rahmenlehrplans für das jeweilige Fach. Die Wahl der Bücher bestimmt jede Schule selbst auf den Fach- und Schulkonferenzen. So kann es sein, dass schon in einer Stadt an verschiedenen Schulen ganz verschiedene Lehrbücher zum Einsatz kommen. Die Lehrer und Schulen bestimmen anhand ihrer Methoden und Erfahrungen selbst das Material. Auch dieses Durcheinander kann Vorteile bringen, da die Verlage mit umfangreichen Expertenteams beständig an der Entwicklung der Lehrbücher arbeiten. Problematisch ist für Eltern vielmehr, dass zum Schuljahresbeginn oft Lehrer nacheinander ihre Bücherlisten austeilen und selbst die Buchhandlungen überfordert sind. Mehr Abstimmung der Lehrer einer Schule untereinander und z.B. einheitliche Bücherlisten über alle Fächer einer Jahrgangsstufe und Absprachen mit einer Buchhandlung wären eine Möglichkeit, Eltern zu unterstützen. Dafür können sich Eltern im Rahmen ihrer Mitwirkung stark machen.