Eine Geschichte von Schicksal und Menschlichkeit

Datum: Donnerstag, 27. Januar 2022 16:15


In guten wie in schlechten Zeiten: Anna und die helfenden Hände von Johanniter Krankenschwester Kathleen Zedlick.

Anna Heinze und die Johanniter verbindet ein ungewöhnliches Jahrzehnt.

Als ein besonderes Dankeschön an die Kinderkrankenpflege der Johanniter Südbrandenburg für 10 Jahre Pflege ihrer schwer erkrankten Tochter Anna erreichte uns diese emotionale Geschichte von Familie Henze, die wir gern ausführlich veröffentlichen:

„An der Wand hängen viele Bilder der Familie. Darunter ein Portrait eines vierjährigen Mädchens. Blondes Haar, blaue Augen, das Kinn frech auf die Hände gestützt, in den Augen kleine Funken. Nach der Aufnahme ist sie bestimmt aus dem Studio gestürzt, um zweitausend wichtigere Dinge zu erledigen: Raupen jagen, Fahrrad fahren, dem Wind hinterherhetzen. „So war sie“, sagt Anja und grinst, „Ein Wirbelwind! Konnte keine zwei Sekunden stillsitzen.“ Anja Heinze ist die Mutti und ein Teil des Pflegeteams von Anna. Das fröhliche Mädchen auf dem Foto ist heute fast 18 und bedarf einer Intensivpflege.

2021 begeht die Familie ein Jubiläum, das einerseits traurig, andererseits ein Glücksfall war, wie Anja erzählt. Vor genau zehn Jahren hat die ambulante Kinderkrankenpflege der Johanniter Südbrandenburg Anna in den Kreis ihrer Patienten aufgenommen. Der Weg bis dahin war für die Familie eine Herausforderung in jeder Hinsicht.

Ein furchtbarer Unfall veränderte das Leben der Familie am 18. März 2008. Anna war, wie jeden Tag in der Woche, im Kindergarten. Sie ist unglücklich in einem Spielhäuschen im Sandkasten hängen geblieben. Strangulationsunfall. Nein, an der Kapuze war keine Kordel. Bis das Mädchen gefunden wurde, sind im Gehirn irreparable Schäden entstanden.

Wie erzählt man so eine Geschichte weiter? Was passiert mit einer Familie? Was geht in jedem einzelnen ihrer Mitglieder vor? Wie war der formelle Weg? Anja liefert die Antwort: „Wir haben von Anfang an getrennt: Anna – Unfall. Die oberste Priorität war die Familie. Wir waren eine vor dem Unfall und bleiben eine.“

Faktisch wurde die Familie fast zwei Jahre lang getrennt. Die Mutter wurde von ihrer damaligen Chefin freigestellt und blieb mit Anna in der Kinderklinik in Kreischa. Währenddessen wurde ein Haus gebaut: Rollstuhlgerecht, großräumig damit Mutti Anna immer im Blick haben kann. Zum Zeitpunkt des Unfalls war Annas Bruder Philipp neun. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. In der Akutphase, in den ersten zwei Wochen auf der Intensivstation des Universitätsklinikums Dresden, hielten die Eltern den Jungen aus dem Geschehen rund um Anna raus. Gleichzeitig gab es viel zu lernen: „Im Klinikum hat uns keiner etwas erklärt. Man hat uns gesagt, wenn Anna erhöhten Hirndruck hat, sei es das Ende. Aber was hat das überhaupt bedeutet? Was ist der Unterschied zwischen Sauerstoffmangel und Schädelhirntrauma?“ Die Pflege wurde in der Klinik gelernt. Aufmerksam schauen, Fragen stellen, mit der Zeit selbst Handgriffe übernehmen und die Pflege des Klinikpersonals vervollständigen. Zum Abschied überreichten die Schwestern Anja sogar ein Ehren-Pflege-Diplom.

Zu dem neuen Alltagsstress und unzähligen Behördengängen kam eine Herzerkrankung des Familienvaters hinzu. Und dann wurde der Entschluss getroffen, ein Haus um diese neue Realität zu bauen, damit Anna nicht in ein Wachkomaheim gehen musste. In der ersten Phase zu Hause kümmerte sich ein Pflegedienst um Anna. „Es war eine schreckliche Zeit. Man hat mir direkt gesagt: „Was wir nicht schaffen, dafür bist du Mutter geworden.“ Man hatte kein Vertrauen mehr in die fremden Menschen.“ Die Pflege der Tochter gänzlich aus der Hand zu geben, kam nie in Frage. Den ersten offiziellen „Mutti-Dienst“ durfte Anja am 1. Januar 2010 antreten. Sieben Tage in der Woche, mindestens acht Stunden am Tag, kein Urlaub. Die Zeit für Philipp musste sich auch finden. Der Tag war getaktet: Frühdienst, Nachmittag für Philipp. Zeit für sich selbst oder das Eheleben gab es kaum. „Mein Mann und ich, wir kennen uns im nächsten Jahr 30 Jahre. Man kann sagen: Wir kennen uns blind. Das hat bestimmt geholfen.“, sucht Anja nach einer Erklärung für die Bewältigung der Tiefpunkte seit Annas Unfall.

Zufälle bestimmen oft das Leben und so war es auch bei den Heinzes. Zwei Mitarbeiterinnen des besagten Pflegedienstes verließen die Reihen und arbeiteten nun bei der Kinderkrankenpflege der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. in Cottbus. Man blieb aber in Kontakt und so veränderte ein Telefonat den weiteren Weg. Ab dem 1. Juli 2011 übernahm das Team der Johanniter die Pflege von Anna.

„Nur mit Vertrauen in das Pflegeteam ist es möglich, abzuschalten. Seit die Johanniter zu uns gehören, ist auch mal ein Urlaub möglich. Der erste längere Ausflug war vom Freitag bis Montag geplant. Philipp war in der neunten Klasse, 14 oder 15 Jahre alt, bekam Liebeskummer und am Sonntag haben wir uns entschlossen, zurückzufahren.“, lacht Anja. In der neunten Klasse angekommen, brauchte Philipp nicht mehr so viel Aufmerksamkeit. Als Jugendlicher geht man lieber eigene Wege. In den Jahren zuvor gab es regelmäßig Mutti-Philipp-Tage. Da gingen die beiden ins Kino oder schwimmen. Ansonsten war der große Bruder bei allen Anna betreffenden Entscheidungen dabei. „Er sollte verstehen was lief.“ Alle Abläufe, die sich in jener Zeit etabliert haben, waren nur mit dem Vertrauen zum Pflegeteam möglich.

Das Johanniter-Team brachte noch eine andere Entlastung mit: das Zuhören. Nach dem Unfall von Anna hat sich das Umfeld zurückgezogen. „Es wurde viel Blödsinn erzählt. Man wechselte die Straßenseite. Der Bekanntenkreis wurde reduziert und sortiert. Die, die geblieben sind, sind noch heute für einen da. Highlife ist in unserer Situation halt nicht möglich. Das Verständnis dafür ist nicht immer da. Auch in der Familie nicht.“, erzählt Anja. Was macht so ein Schicksalsschlag mit einem? „Man ist nicht mehr so unbeschwert, geht an alles konstruktiver ran. Philipp konnten wir nicht in Watte packen, aber er war der einzige Schüler, der bis zur zehnten Klasse das Schulgelände während der Unterrichtszeit nicht verlassen durfte. Außerhalb des Schulgeländes sind die Schüler nicht versichert. Ein hypothetischer Unfall ist für uns schon einmal Realität geworden. Daraus lernt man.“

Der Alltag erscheint gewöhnungsbedürftig. Man ist nie alleine. Das Pflegeteam läuft immer mit. Die einzige Zeit ohne Fremde im Haus ist die Schicht von Anja. Ansonsten frühstückt man zusammen. Nicht jeden Tag. Es ist wichtig, trotzdem gewisse Grenzen zu wahren. Es ist immer noch ein Zuhause für eine Familie. Kein Krankenhaus, kein öffentlicher Treffpunkt. „Zuerst sind wir vier, dann der Rest. Keine Rechtfertigungen.“

Die Frage des Vertrauens zum Pflegeteam hat die oberste Priorität. Wie wird entschieden, ob ein neues Team-Mitglied in das System passt? Anja erklärt: „Die Chemie-Frage ist unwichtig. Neue Kräfte kommen, schauen wie es bei uns läuft und haben eine Einarbeitungszeit. Ich gucke auf die Finger, das ist klar. Ich bin die Pflegekraft, die die meiste Zeit mit Anna verbringt. Es passt auch nicht jede Kraft zu jedem Patienten. Einen Tagesablaufplan gibt es nicht. Man muss flexibel sein, nach der Tagesform von Anna entscheiden. Das bedeutet, dass man ihre Signale wahrnehmen und verstehen muss. Das kann nicht jeder.“ Anna befindet sich im Wachkomma. Es gibt keine wahrnehmbare Sensorik oder Motorik. Es sind Mikrozeichen, manchmal nur ein Schnaufen, die den starken Willen und die Sturheit der Prinzessin zum Ausdruck bringen, ihr Wohlbefinden oder Unbehagen.

Zum Pflegeteam gehört auch Lilly, der Wach- und Therapiehund. Die weiße Bolonka-Dame hat alle im Griff. Sie bleibt auch mit den Großeltern bei Anna, wenn die Eltern den wohlverdienten Urlaub antreten. Die Großeltern bewachen das Haus, Lilly die Großeltern und das Pflegeteam der Johanniter kümmert sich um Anna. Die Aufgabenverteilung steht.

Seit circa vier Jahren wird die Familie von einer Familienbegleiterin des Kinderhospizdienstes der Johanniter unterstützt. „Uns kann nur jemand begleiten, der uns kennt.“, erzählt Anja. Am Anfang war die Skepsis da. Als Kathrin vorgestellt wurde, schien es fast natürlich, mit ihr zu reden, sich von ihr zum Arzt oder bei anderen Unternehmungen begleiten zu lassen. Inzwischen sind sie befreundet. Jede Familie hat einen Rhythmus. Ein Familienbegleiter kennt und respektiert das. Es geht bei der Betreuung nicht zwangsläufig um das Thema der Vergänglichkeit des erkrankten Kindes. Es geht hauptsächlich darum, dass die Familie die Präsenz eines aufmerksamen Menschen erfährt.
Jede Lebenslage teilen andere Betroffene mit einem. Diese Menschen zu treffen, ohne jegliche Vorbehalte mit ihnen zu reden, ohne von anderen beäugt zu werden, entspannte Familienzeit am Grill oder auf dem Spielplatz zu erleben, ist wichtig und auch möglich. Die von der Kinderkrankenpflege und dem Kinderhospizdienst der Johanniter organisierten Kinderfeste sind ein fester Bestandteil der Dienste rund um die jungen Patienten und deren Familien. „Es tut einfach gut, andere Betroffene kennenzulernen.“, sagt Anja.

Das zehnjährige Jubiläum der Pflege von Anna durch das Johanniter-Team ist sicherlich kein Grund zur Freude im herkömmlichen Sinne. Andererseits wäre wohl vieles für die Familie Heinze ohne die Johanniter Kinderkrankenpflege und den Kinderhospizdienst anders gelaufen. „Es ist wie eine Ehe: in guten und in schlechten Zeiten. Eine Beziehung, die auf Gegenseitigkeit beruht.“

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