„Man erkauft sich Selbstwertgefühl“

Datum: Montag, 07. März 2022 14:53


Foto: Sabine Pohla

Interview mit Bianca Kellner-Zotz zu ihrem Buch „Happy Family“ rund um Fehlentwicklungen in der Erziehung der Kinder, zunehmende Medialisierung des Familienalltags und all dem, was in unseren Familien noch so falsch läuft.

Deutschlands Familien steuern immer mehr auf einen Bildungs- und Erziehungsnotstand und gleichsam auf schwindendes Glück zu. So könnte das Fazit eines Buches lauten, dass mit dem Titel „Happy Family“ und einer glücklichen Familie auf dem Cover beim ersten Blick genau das Gegenteil assoziiert. Geschrieben hat es die Kommunikationswissenschaftlerin Dr. Bianca Kellner-Zotz, die ihrer Doktorarbeit zur zunehmenden Medialisierung des Familienalltags nun ein populäres Buch insbesondere für Eltern folgen lässt. Es hält der heutigen Elterngeneration den Spiegel vor und zeigt auf, wie unser Streben nach sichtbarem Glück und nach Aufmerksamkeit einem tatsächlich erfüllten Familienalltag und Kindeswohl zuwiderläuft. Auch wenn die Verortung im Münchner Bildungsbürgertum nicht immer dem Osten mit einem traditionell stärkeren Frauen- und Mütterbild entspricht, legt das Buch doch für alle Familien offen, wie sehr vor allem Mütter für ihr eigenes Unglück und nachwirkende Defizite ihrer Kinder verantwortlich sind. Das Buch ist im inhaltlichen Sinn kein Vergnügen, es eröffnet letztendlich aber Auswege aus der medialen Inszenierung einer „Happy Family“ hin zu realem Familienglück. Wir sprachen mit der Autorin:

Ihr Buch führt Mittelschicht-Müttern auf über 300 Seiten quasi ein systemisches Erziehungsversagen vor, besteht noch Hoffnung für die heutige Kindergeneration?

Ich möchte nicht den Müttern den Vorwurf machen. Das ist ein gesellschaftliches Problem. Die Erziehungsleistung insbesondere unserer Mütter und Väter, aber auch unserer Erzieher und Lehrer wird kontinuierlich abgewertet. Dadurch entsteht ein Vakuum der Wertschätzung und Anerkennung. Das kompensieren vor allem die Mütter, die besonders im Kreuzfeuer der Kritik stehen. Zudem wird uns in unserer Mediengesellschaft vorgegaukelt, wie besonders und toll unser Leben sein muss. Da gehört mindestens ein Kind dazu – und wenn Eltern nur ein Kind haben, wird daraus schnell Prinzessin oder Prinz. Ich war gestern in der Stadt einkaufen und vor mir war ein Knirps an der Reihe, der offensichtlich im September in die Schule kommt. Zum Schulranzankauf war er von beiden Eltern und beiden Großeltern umzingelt und stand vor einer schier unendlichen Auswahl von über 100 Schulranzen-Modellen. Er war völlig überfordert, während sechs Erwachsene ein Modell nach dem anderen inszenierten und begeistert auf ihn einredeten. Der Kauf war ein Familienevent und der kleine Mensch musste sich selbst bei dieser Bagatelle als Zentrum des Universums fühlen. Die Permanenz solcher Erlebnisse verändert Kinder, und das nicht zu ihrem Vorteil.

Niemand blickt gern in den Spiegel seiner Verfehlungen, was macht sie dennoch zuversichtlich, dass Mütter als wesentliche Zielgruppe Ihr Buch auch bis zum Ende durchhalten?

Die Erfahrungen meiner Doktorarbeit! Die wurde auch von vielen Müttern gelesen und sie alle sagten mir, dass sie beim Lesen viele „Aha“-Erlebnisse hatten. Das Buch ist letztendlich eine populäre Umsetzung davon. Natürlich ist es nie schön, sich selbst zu ertappen. Manche werden sich abgrenzen. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass viele Mütter die dargestellten Fehlentwicklungen selbstkritisch erkennen, sie selbst reflektieren und dann auch nach Auswegen suchen. Ob das nun der ausufernde Kindergeburtstag oder das Bespaßungsfeuerwerk aus Reiten, Ballett und Tennis in einem überfüllten Wochenplan fürs Kind sind – viele stellen plötzlich fest, wie wenig sie diesen Stress für sich und ihr Kind eigentlich wollen. Das Buch führt nicht zu Depressionen, es öffnet eher die Augen und stößt Veränderungen an.

Warum haben Sie den Titel „Happy Family“ gewählt?

Wir wollen alle in einer glücklichen Familie leben und das auch zeigen. Das „H“ aus Happy als Hashtag umzusetzen, unterstreicht den Einfluss der Medialisierung auf die Darstellung heutiger Familien. Glück ist immer eine sehr subjektive Sache. Es kann für Mütter und Familien auch richtig sein, jeden Tag mit dem Kind etwas Neues zu machen und das dann auch mit der Welt zu teilen. In meinem Umfeld habe ich aber festgestellt, dass genau das nicht glücklich macht. Familie ist ja bestimmt durch das Zusammengehörigkeitsgefühl, einen geschützten Raum, in dem jeder er selbst sein darf – und zu all dieser Widersprüchlichkeit passt der Buchtitel doch ganz gut.

Was möchten Sie mit dem Buch erreichen?

Ich würde mir wünschen, dass insbesondere Frauen und Mütter reflektieren, was sie in ihrem Alltag unglücklich macht und wie sie diesen wieder schlanker und glücklicher gestalten können. Und dass wir Frauen aufhören, einander ständig zu bewerten und in Kategorien einzustufen. Wir sollten uns als eine Gemeinschaft sehen und für unsere gemeinsamen Ziele eintreten.

Sie beschreiben eine neue Sucht nach Aufmerksamkeit, die von der Medialisierung unserer Gesellschaft getrieben wird – warum betrifft sie Mütter am stärksten?

Mütter spüren den Druck der Medialisierung am stärksten. Das geht schon los, wenn das erste Kind auf die Welt kommt. Mütter werden in der Betreuung des Babys zunehmend fremdbestimmt, der gesamte Alltag ordnet sich dem Baby unter. Dafür gibt es aber keinerlei Wertschätzung aus dem beruflichen oder gesellschaftlichen Umfeld. Das spüren vor allem Mütter aus einem akademischen Umfeld, die heute meist die ersten Berufsjahre oder Karrierestufen abwarten, bevor sie ihr erstes Kind bekommen. Sie sind es gewohnt, für Leistung auch Anerkennung zu erhalten. Als Mutter sind sie dann den ganzen Tag auf den Beinen und erhalten nicht nur keine Anerkennung, sondern eher eine Abwertung für den beruflichen Ausfall oder die unaufgeräumte Wohnung. Es gibt beständig Defiziterfahrungen. Diese Defizite gleichen Mütter heute damit aus, ihr neues Lebensglück zu präsentieren. Das sind meist schöne Bilder mit dem Baby, die in sozialen Medien inszeniert möglichst viele Likes und Kommentare erhalten sollen. Dieses Feedback wird immer mehr zum Ausgleich für die fehlende Anerkennung – das beginnt mit dem Baby und zieht sich dann über Kindergeburtstage und etliche Familienevents durchs gesamte Familienleben.

Diese Aufmerksamkeit bezeichnen Sie als neue Währung, was können sich Mütter davon kaufen?

Man erkauft sich Selbstwertgefühl, auch wenn das nicht lange anhält. Es ist etwas sehr Flüchtiges. Ein Like ist schnell verflogen. Insofern kann man das fast mit einer Sucht vergleichen, in der man die Dosis erhöhen oder einen neuen Schuss setzen muss. Man lebt mehr im Außen. Sichtbare Attribute werden in unserem medial bestimmten System auch stärker beachtet und honoriert.

Im Buch begegnet uns sehr oft Ihre Aversion gegen aufwändige Backkunstwerke, haben Sie hier ein Trauma verarbeitet?

Das war in meinen Studien sozialer Medien einfach ein großes und sehr auffälliges Thema. Viele Mütter inszenieren Geburtstagstorten auf ihren Profilen wie in einem Wettbewerb. Den aufwändigen Geburtstagstorten für Vorschulkinder folgen illustre Schultüten, dann Fotos von Konzerten. Bei uns daheim gibt es seit jeher Schokokuchen aus der Backmischung oder Gugelhupf.

Das Muttersein zeichnen Sie dann auch als steten Wettbewerb, der über Kuchen hinaus per Instagram, exotischen Ausflügen oder ausufernden Kindergeburtstagen ausgetragen wird; wen sehen Sie da eher als Verlierer: die Kinder oder die Mütter?

Auf lange Sicht sind die Kinder die Verlierer. Sie werden mit dem Ideal groß, dass beständig etwas Neues und Besonderes passieren muss. Das überholt sich irgendwann und nutzt sich auch ab. Kinder generieren falsche Erwartungshaltungen. Wurden früher zum Kindergeburtstag Freunde eingeladen, ein paar Spiele gespielt und einfach nur gequatscht, muss es heute ein besonderes und durchorganisiertes Event sein, ob nun im Tierpark oder Klettergarten – es darf keine Langeweile aufkommen. Es führt bei Kindern zu Frustration, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden und nimmt ihnen die Fähigkeit zu einfachen Glückserlebnissen im Freundeskreis.

Eltern erreichen mit dem Streben nach besonderem Glück für ihre Kinder also genau das Gegenteil?

Ja. Man nimmt Kindern die Erfahrung, das Glück in kleinen Alltagsdingen zu erfahren. Das bricht teils völlig weg.

Im Osten haben wir traditionell ein stärker selbstbestimmtes Frauenbild – glauben Sie, dass Ostmütter den Alltag jener Münchner Mittelschicht nachvollziehen können, in der ihr Buch vorwiegend spielt?

Das Buch betrifft sicher alle urbanen Milieus, insofern auch Lebensverhältnisse in Berlin, Leipzig oder Dresden. Mit gestiegenem Wohlstand und gestiegener Akademisierung passt das Bild vom Einzelkind im fortgeschrittenen Lebensalter auch dort. In meinem Buch wird aber auch eine Frau aus dem ländlichen Raum beschrieben, deren Lebensalltag sicher eher zum ländlichen Osten passt – und bei ihr habe ich auch die größte Zufriedenheit gespürt. Aktuell forsche ich zum Thema Bildung im Kontext der DDR, dadurch weiß ich, dass Frauen im Osten ein stärkeres Selbstbewusstsein haben. Das betrifft zumindest das mittlere Lebensalter – aber je jünger sie werden, desto stärker verschwindet das. In jüngeren Generationen gleicht sich das inzwischen an. Der Fokus der DDR auf Gemeinschaft fasziniert mich aber immer wieder und ich bin beeindruckt von der Allgemeinbildung mittlerer und älterer Generationen im Osten, etwa im Hinblick auf die Geografiekenntnisse. Das Bildungssystem hat dort viel geleistet. Davon hätten wir im Westen viel lernen und übertragen können. Die jüngeren Frauen sind heute allerdings auf beiden Seiten mit derselben Medialisierung und Medienlogik konfrontiert, sie nutzen dieselben sozialen Medien wie TikTok, Facebook oder Instagram, sie werden tagtäglich mit denselben Vorbildern versorgt. Selbst wer finanziell nicht mithalten kann, passt sich und seine Wünsche und Lebenserwartungen diesem System an. Insofern verschwimmen die Unterschiede zusehends.

Haben Sie eine Erklärung, warum sich im „westlich“ geprägten Medienhype um Gleichberechtigung die Lebensrealität von Müttern und Frauen im Osten so wenig widerspiegelt?

Wir haben viel zu wenige ostdeutsche Journalisten in den Leitmedien. Den Deutschen wird ihre Geschichte seit der Wende überwiegend von Westdeutschen erzählt und am Lebensbild Westdeutschlands ausgerichtet. Selbst die Ressorts vieler Medien im Osten sind entsprechend besetzt. Einer meiner Studierenden bezeichnete den Versuch westdeutscher Journalisten, über den Osten zu berichten, als „Exotenforschung“. Ich halte das nach wie vor für eine Schande. Ein Gegenbeispiel liefert die Dokumentarfilmerin Sabine Michel. Sie hat jetzt einen Film über ostdeutsche Frauen zur Wende gemacht. Sie zeigt darin auch unsere verpassten Chancen, als Gesellschaft vom fortschrittlichen Frauen- und Familienbild des Ostens zu lernen.

Die zunehmende Inszenierung und Eventisierung des Familienlebens eint alle Familien in Ost und West, glauben Sie hier wirklich noch an ein mögliches Umdenken?

Das kommt auf die Familie an. Ich denke, dass diese Entwicklung nach Corona eher einen neuen Schub bekommt. Die Menschen haben ein immenses Nachholbedürfnis. Ich hoffe, dass einzelne Familien für sich reflektieren und entscheiden, diesem zunehmenden Zwang zur Inszenierung den Rücken zu kehren.

Bei der Bildung liefern Sie Klartext: Angepasste Schüler, Noteninflation und Helikoptereltern regieren allerorten den Schulalltag, produziert diese wattierte Kindheit künftig ein Heer der Ahnungslosen?

Der Begriff der Ahnungslosen gefällt mir sehr gut. Ich sehe das selbst an meinen Studierenden, die zunehmend unkritisch sind. Sie haben merkwürdiger Weise einen starken Autoritätsglauben. Es wird immer weniger hinterfragt, was der Jugend früher eigen war. Sie sind in linken, ökologischen Themen sehr sensibel, aber bei Demokratieverständnis oder Kritik an Autoritäten sind sie sehr stromlinienförmig und angepasst. Das beobachte ich aber auch an meiner Tochter. Sie ist in der 10. Klasse und hat noch kein großes Stück der Literatur gelesen, keinen Goethe, Schiller oder Lessing. Unsere Kinder werden nicht mehr mit den tiefgreifenden Bildungsfragen und Brüchen konfrontiert. Zudem erodiert die Allgemeinbildung immer mehr. Meine Tochter kannte nicht einmal die Hälfte der Hauptstädte unserer Bundesländer. In der Schule erhalten Kinder aber selbst bei schlechten Leistungen eine Note 3, damit sie nicht unglücklich sind und man Konflikten mit Eltern aus dem Weg geht. Kinder sind heute ahnungslos, was unsere Geschichte betrifft und ahnungslos, was unsere Demokratie und die Klassiker betrifft. Das ist schrecklich.

Sie formulieren viele, teils krasse Widersprüche zum Vorzeigemodell beruflich und familiär „erfolgreicher“ Mütter, halten Sie Erfolgsgeschichten von perfekten Karriere- und Familienfrauen für medial inszeniert?

Natürlich sollen Frauen das Leben führen können, das sie sich wünschen. Aber mediale Vorbilder haben hier unrealistische Vorstellungen geweckt. Die Wahrheit ist: Wir können nicht alles haben. Als Anne-Marie Slaughter ihren Job im Stab von Hillary Clinton kündigte, weil ihre Teenager-Söhne eine schwierige Zeit durchlebten, stellte sie klar, dass sich Kapitalismus und Familienleben nicht vereinbaren lassen und dass eine Mutter, die über eine normale Vollzeit hinaus in einer Führungsposition arbeitet, nicht der wichtigste Mensch im Leben der eigenen Kinder sein kein. Das medial vorangetriebene Ideal der schlanken, top gestylten Karrierefrau, die ihren Kindern bei den Hausaufgaben hilft und tolle Geburtstagstorten bäckt, erzeugt bei den „Zuschauerinnen“ Defizit-Interpretationen. Wir wissen, dass all diese Vorzeigemütter ein Heer an Dienstleistern haben, von der Putzfrau übers Kindermädchen bis zum Gärtner. Dies einer Durchschnittsfrau als Karotte vor die Nase zu halten, erweist sich als Bärendienst und schadet dem Selbstverständnis der Mütter in unserer Gesellschaft mehr als es helfen könnte.

Sie verweisen auch auf Hirnforscher Manfred Spitzer, der vor einigen Jahren mit seiner klaren Ablehnung digitaler Medien Schlagzeilen machte – teilen Sie seine Befürchtung einer Generation frühzeitiger Dementer aufgrund digitalen Dauerkonsums?

Was Kinder und Jugendliche anbelangt, teile ich die Befürchtung von Manfred Spitzer. Es gibt übrigens viele Persönlichkeiten aus dem Silicon Valley, die das genauso sehen und ihre eigenen Kinder von Tablets und Smartphones fernhalten, solange es geht. Der Hype um die Waldorf-Schulen im Silicon Valley belegt diese Entwicklung. Bildung bei Kindern funktioniert eben nicht mit Wischen über Bildschirme. Ich bin durch die Arbeit mit meinen Studierenden darauf aufmerksam geworden. Sie können kaum noch komplexe Texte über 5 Seiten hinaus verarbeiten. Sie greifen unbewusst und aus Gewohnheit alle zwei bis drei Minuten zum Handy. Wenn man sie darauf anspricht, haben sie das überhaupt nicht wahrgenommen. Sie werden schnell nervös, sind unkonzentriert und vergessen viel. Was man nicht selbst gelesen, durchdacht und aufgeschrieben hat, ist sehr flüchtiges Wissen. Ich weiß nicht, ob sie früher dement werden, aber es sind offensichtlich wichtige Verflechtungen der Synapsen im Kindes- und Jugendalter verloren gegangen. In Kindergärten und Grundschulen hat die Digitalisierung der Bildung meines Erachtens nichts verloren. Wir müssen wieder zurück zu den Grundfertigkeiten einer klassischen Bildung: Lesen, (selber!) Schreiben, (Kopf-)Rechnen. Zwei Stunden Englisch in der Grundschule braucht dagegen niemand.

Sie haben selbst zwei Töchter, wie halten Sie es mit Events und digitalen Medien?

Bei den Events habe ich früh beschlossen, nicht mitzumachen. Als mich eine Freundin meiner Tochter im Kindergarten fragte, was wir Tolles zu ihrem Geburtstag machen, war ich echt ratlos. Bei uns gab es Kuchen, Topfschlagen und fertig. Wir feierten zu Hause und gingen in die Natur. Mir haben große Veranstaltungen nie viel bedeutet und das hat sicher auch unsere Kinder geprägt. Sie sind glücklich, wenn sie sich daheim mit ihrem Freundeskreis treffen und einfach quatschen. Digitale Medien sind natürlich wahnsinnig attraktiv für Kinder. Corona hat das aufgrund der Beschränkung sozialer Kontakte verschärft. Wir haben früh Regeln eingeführt. Ein Handy gab es bei uns ab der fünften Klasse. Tablets haben seit jeher einen Sperrschutz und eine Alterssicherung. Die Handys liegen immer in der Küche auf dem Fensterbrett, das gilt auch für mein eigenes Smarthphone. Sie haben im Wohnzimmer, am Esstisch oder auf dem Nachttisch nichts zu suchen.

Am Ende wird Ihr Buch doch zum Erziehungsratgeber und spricht davon, dass uns abrüsten gut täte – welche fünf Regeln würden Sie zuallererst in jeden familiären Abrüstungsvertrag schreiben?

Ich würde das in Regeln für Medien und Regeln für den Alltag teilen. Auch die Eltern müssen sich hinterfragen, wie viel Zeit sie mit Handy, Tablet und TV verbringen. Wir haben für uns definiert, dass wir Handy oder Tablet nicht länger als eine halbe Stunde am Stück nutzen. Dann ist Schluss. Der Esstisch ist heilig und frei von digitalen Medien, hier wird der Alltag zusammen besprochen. Es wird nicht vorm TV gedaddelt, wenn in Familie ein Film geschaut wird, dann auch zusammen. Es braucht Inseln für die Familie. Gemeinsame Spiele können das ebenso sein wie Ausflüge in die Natur. Mütter sollten überlegen, wie viele Nachmittage pro Woche sie ihren Kindern Aktivitäten in Vereinen etc. zumuten wollen und ob sie nicht öfter daheim einfach Kinder sein sollten. Für mich wäre aber die wichtigste Abrüstungsregel, nicht so viel im Außen zu leben. Brauchen wir wirklich ein Profilbild oder einen Instagram-Account? Einfach mal eine Woche nichts posten, sowohl Eltern als auch Kinder – und dann einmal schauen, wie sich das aufs Familienleben ausgewirkt hat und ob etwas gefehlt hat.

Wie würden Sie mit Blick auf heutige Kinder das Erziehungsproblem, Bildungsproblem und Klimaproblem nach der Größe Ihrer Sorgen sortieren?

Als Frau und Mutter sehe ich mein Umfeld und halte das Bildungsproblem für die größte Herausforderung. Die Angepasstheit der jungen Generation macht mir große Sorgen. Eine Gesellschaft kann nur dann Antworten auf große Probleme finden, und dazu gehört auch das Klimaproblem, wenn wir über ein Grundrüstzeug an Bildung verfügen. Da reicht es nicht, Daten auszutauschen und digitalisiert zu sein. Man muss mit Texten umgehen, kritisch hinterfragen, philosophische Fragen dialektisch klären. Wenn wir das endlich wieder annehmen, dann können wir neben dem Klima- auch das Erziehungsproblem lösen. Dann können wir Kinder wieder schreien und toben und spinnen lassen. Wir Erwachsenen sollten unseren Kindern wieder mehr Freiräume geben, ihnen aber nicht alles durchgehen lassen – und schon gar nicht zu sechst mit einem Knirps einen Schulranzen kaufen.

„Medienformate, Darstellungsformen, Berichterstattungsmuster, die einer spezifischen Medienlogik folgen – immer reißerischere Überschriften, immer schnellere Aktualisierung von Online-Artikeln, immer intimere Einblicke in das Leben von Prominenten, immer schnellere Schnitte in YouTube-Videos –, konstruieren eine Wirklichkeit, die wir in unsere Einschätzungen, Bewertungen und Verhaltensoptionen einfließen lassen. Mit weitreichenden Folgen. Wenn wir plötzlich glauben, dass ein gelungenes Familienleben nur möglich ist, wenn eine originelle Freizeitbeschäftigung die nächste jagt, dann bleibt kaum Zeit, um die Familie als Rückzugsort zu erhalten.“

Bianca Kellner-Zotz, Zitat aus ihrem Buch „Happy Family“

Happy Family von Dr. Bianca Kellner-Zotz

... erscheint am 14. März 2022 im Goldmann Verlag. Das Thema: Warum die Sucht nach Aufmerksamkeit Familien unter Druck setzt und wie wir uns davon befreien können. Selbst Mutter von zwei Kindern schreibt die Kommunikationswissenschaftlerin darüber, wie sich Familien und deren Entwicklungsvorstufen in Form von Singles, Pärchen, Hochzeitspaaren und „Wir sind schwanger“-Paaren auf immer groteskere Weise medial inszenieren und damit andere, aber vor allem sich selbst, extrem in Stress versetzen. Paare feiern Motto-Hochzeiten, Schwangere fordern WLAN im Kreißsaal, Eltern verschicken Save-the-date-Karten zum ersten Schultag ihrer Kinder und schon Zweijährige bekommen zum Geburtstag aufwändige Einhorn-Kuchen samt Themen-Party. Das Spektakel ist zum Normalfall geworden. Wir inszenieren unser Familienleben auf Facebook, Instagram und WhatsApp und tun so, als sei dieser anstrengende Alltag leicht wie eine Seifenblase. Oft sind Mütter das Zentrum dieses meist gut gemeinten, sozialen Überbietungswettbewerbes – bis die Blase platzt. Denn dieses „Aufmerksamkeitsregime“ setzt Familien unter Druck und lenkt vom Wesentlichen ab: dem entspannten und ziellosen Zusammen-Sein, das die Familie zum letzten Rückzugsort in dieser hektischen Welt macht. Dr. Bianca Kellner-Zotz zeigt, wie wir dem Stress entkommen und uns das Familienleben zurückerobern.