Der Lehrkräftemangel wird uns noch viele Jahre begleiten. Warum weder KI noch Seiteneinsteiger allein eine Lösung sind und was es zusätzlich braucht, verrät Prof. Dr. Kai Maaz im Interview. Er ist Geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. 2018 stand er uns schon einmal Rede und Antwort zum Lehrkräftemangel.
Im Interview mit der lausebande 2018 sagten Sie: „Wir stehen möglicherweise erst am Anfang der kritischen Situation.“ Die Situation hat sich in den vergangenen fünf Jahren nicht entspannt – ganz im Gegenteil. Ist mittlerweile ein Ende der kritischen Phase absehbar?
Nein, die Situation ist nach wie vor schwierig. Ich gehe davon aus, dass wir noch 10 bis 15 Jahre Mangelsituationen haben werden. In der Grundschule wird sich die Situation aufgrund der demographischen Situation etwas eher entspannen. Und auch künftig wird der Mangel nicht alle Fächer und Bereiche gleichermaßen betreffen. Derzeit fehlen Lehrkräfte vor allem in strukturschwachen Regionen und in den Naturwissenschaften sowie Musik und Kunst. Zugleich gibt es jetzt schon Bereiche mit einem Überangebot, beispielsweise bei den allgemeinbildenden Fächern an den Gymnasien.
2018 waren bereits erste Maßnahmen ergriffen worden – wie die Erhöhung der Lehramtsstudienplätze und die verstärkte Einstellung von Seiteneinsteigern. Haben diese Maßnahmen Wirkung gezeigt?
Teilweise ja, aber wir brauchen auch künftig Geduld. Wer jetzt ein Lehramtsstudium beginnt, steigt erst in etwa sieben Jahren in den Beruf ein. Daher würde es ohne Seiteneinsteiger derzeit nicht funktionieren, ohne sie könnten einige Bundesländer ihren Bedarf nicht annährend decken. Der Anteil der Seiteneinsteiger an den Neueinstellungen ist in den Ländern sehr unterschiedlich aber tendenziell überall angestiegen. Noch wissen wir nicht, ob sich die Zahl der Seiteneinsteiger verstetigt und ob sie langfristig im System Schule bleiben.
Gibt es mittlerweile belastbare Aussagen dazu, ob sich die teilweise hohe Zahl an Seiteneinsteigern auf die Unterrichtsqualität auswirkt?
Die wenigen Studien, die es gibt, zeichnen kein klares Bild. Da braucht es weitere Untersuchungen. Für ganz wichtig halte ich in jedem Fall eine Qualifizierung für diese Personengruppe – sowohl vor als auch während des Einstiegs in den Lehrberuf. Denn sonst sehe ich die Gefahr einer Deprofessionalisierung. Es darf nicht nur darum gehen, diese Gruppe zu mobilisieren, sondern sie muss nachhaltig qualifiziert werden. Es hat sicherlich positive Aspekte, wenn jetzt eine neue Personengruppe von außen an die Schulen kommt. Andererseits darf das nicht dazu führen, dass die grundständige Lehramtsausbildung in Frage gestellt wird. Stattdessen sollte man die aktuelle Situation als Anlass nehmen, die Lehramtsausbildung zu verbessern.
Die Kultusministerkonferenz will Anfang 2024 ein Gutachten zur Lehrkräfteausbildung vorlegen, an dem Sie mitwirken. Können Sie schon ein paar Einblicke geben: Wie kann man das Lehramtsstudium so verändern, dass sich noch mehr Menschen für ein Lehramtsstudium entscheiden und dass es weniger Studienabbrüche gibt?
Zum einen muss man die Ursachen in den Blick nehmen. Denn nicht alle Abbrüche passieren während des Studiums, sondern teilweise beim Übergang zum Referendariat oder sogar danach. Da können viele Faktoren eine Rolle spielen: Passt das gewählte Studium zu mir? Ist der Beruf attraktiv genug? Tun sich vielleicht bessere Alternativen in einem anderen Beruf auf? Ein stärkerer Praxisbezug schon während des Studiums kann eine Lösung sein. Da muss man allerdings genau schauen, wie das aussehen kann. Aktuell passiert es immer wieder, dass Studierende schon während des Studiums Lehraufgaben übernehmen, die über eine Assistenz hinausgehen. Das ist in der Notsituation einzelner Schulen manchmal nicht anders machbar, sollte aber nicht zur Regel werden.
Es gibt verschiedene Modellprojekte gegen den Lehrermangel. Wissen Sie von Best-Practice-Beispielen aus anderen Bundesländern oder aus dem Ausland, die gut funktionieren und die andere Schulen adaptieren könnten?
Ich glaube nicht, dass uns der Blick auf Modellprojekte an einzelnen Schulen oder ein Wettstreit zwischen den Bundesländern weiterhilft. Wir brauchen stattdessen eine Strategie, die wirklich alle Schulen berücksichtigt, unabhängig von der Schulform und der Region. Wir stehen vor einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung, die eine gesamtgesellschaftliche Lösung braucht. Was uns ebenfalls nicht weiterbringt, sind derzeit utopische Forderungen. Wir können es in der jetzigen Situation beispielsweise nicht ermöglichen, dass vor jeder Grundschulklasse zwei Lehrkräfte stehen.
Welche Lösungen halten Sie stattdessen für machbar?
Vielleicht sollte man stattdessen schauen, ob die Lehrpläne an manchen Stellen zu voll sind. Wäre es nicht sinnvoll, dass wir uns auf wirklich wichtige Inhalte fokussieren? Die aktuellen Bildungsstudien zeigen ja, wo der Fokus in Grundschulen liegen sollte: auf der Vermittlung von basalen Kompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Und dort, wo es möglich ist, sollten wir die maximalen Klassengrößen stärker ausreizen. Das mag das Unterrichten nicht eben leichter machen, aber aktuell muss es darum gehen, jedem Kind Unterricht zu ermöglichen.
Sie erwähnten die jüngsten Bildungsstudien. Diese zeigen deutliche Rückgänge bei den Kompetenzen und Leistungen von Schulkindern. Sind das bereits die Auswirkungen des Lehrermangels oder spielt da eher Corona rein?
Möglicherweise weder noch. Dieser Abwärtstrend hat schon viel eher eingesetzt, wurde aber womöglich durch Corona verstärkt. Wir müssen jetzt schauen: Wir gehen wir mit dem Nichterreichen von Bildungsstandards um? Welche Konsequenz hat es, wenn Kinder bestimmte Standards nicht erreichen? Machen wir trotzdem mit dem Unterricht weiter oder beginnen wir dann mit integrativen Ansätzen und Fördermaßnahmen? Ich will das beispielhaft verdeutlichen: Wenn in der Grundschule im Matheunterricht die Addition abgeschlossen wird und 5 von 25 Kindern das nicht verstanden haben, dann haben sie auch kaum eine Chance, darauf aufbauende Rechenkonzepte wie Subtraktion und Multiplikation zu verstehen. An dieser Stelle muss eine spezifische Förderung einsetzen, die genau diese Kinder abholt und sie dabei unterstützt. Wir müssen viel konsequenter Leistungsschwächen diagnostizieren und die betroffenen Kinder in der Folge zielgenau fördern.
Und wie sollen die Lehrkräfte auch das noch leisten?
Dafür gibt es Expertise außerhalb der Schule, zum Beispiel Lerntherapeuten. Bisher stehen diese Systeme noch zu sehr nebeneinander. Wenn es uns gelingt Schule und externe Förderangebote stärker zu verzahnen, wäre schon viel gewonnen. Das klingt zunächst nach Mehrarbeit für die Lehrkräfte, aber meines Erachtens würde es sie langfristig entlasten. Wenn diese Förderangebote verpflichtend in Anspruch genommen werden müssen, würden die Kinder stark davon profitieren.
Kann an dieser Stelle vielleicht die Digitalisierung helfen?
Natürlich können digitale Tools den Lernprozess vereinfachen und unterstützen, indem sie darauf aufbauend individuelle Aufgaben generieren. Hybridunterricht kann eine Lösung sein, wenn der Lehrkräftemangel in bestimmten Schulen besonders akut ist. In Skandinavien werden solche Modelle schon seit vielen Jahren umgesetzt. Aber ich sage auch: Künstliche Intelligenz wird keine Lehrperson ersetzen. Wir brauchen die persönliche Interaktion für nachhaltiges Lernen. Digitalität sollte kein Selbstzweck sein. Was wir in der Debatte um digitale Medien ebenfalls nicht vergessen sollten: Es gibt tolle analoge Medien, die beim Lernen helfen können. Ich hoffe und glaube, dass Kinder auch in Zukunft mit Büchern Lesen lernen.
Zum Schluss wollen wir noch einen Blick auf die Kitas werfen: Auch dort herrscht weiter Personalmangel. Ist hier ein Ende absehbar?
Auch hier ist der Fachkräftemangel eklatant und das wird kaum besser werden, vor allem, wenn wir die Betreuungsquote erhöhen wollen. Dazu kommt die fehlende Wertschätzung. Der Lehrkraftberuf wird ganz anders bezahlt und wertgeschätzt als der Erzieherberuf. Eine weitere Herausforderung sehe ich mit dem Rechtanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder von Klasse 1 bis 4 auf uns zukommen. Auch dafür braucht es ausgebildetes Personal.
An den Schulen wirkt sich Lehrermangel in Form von Unterrichtsausfall und womöglich Bildungslücken aus. Wie ist das in den Kitas?
Wir wissen aus Studien, wie wichtig die frühkindliche Bildung für spätere Bildungsverläufe ist. Insofern schließt sich hier der Kreis zu den oben erwähnten Bildungsstudien. Wir müssen schon in der Kita mit der Förderung der Kinder ansetzen. Ich will ein Beispiel aus Hamburg nennen, wo das sehr gut funktioniert: Dort werden alle Kinder im Alter von viereinhalb Jahren auf ihre sprachliche Kompetenz getestet. Werden dort Defizite festgestellt, erfolgt eine verpflichtende Förderung, damit zur Einschulung alle Kinder die gleichen Chancen haben. Denn der Bildungsauftrag setzt schon vor der Schule an. Das steht längst in den Bildungsplänen aller 16 Bundesländer. Es wird aber nicht immer und überall konsequent umgesetzt. Studien zeigen: Die Bildungsschere geht schon in den ersten drei Lebensjahren auseinander, das setzt sich in der Schule fort.
Wird Kita damit nicht zu sehr verschult?
Das sehe ich nicht. Kinder wollen lernen und haben Spaß daran. Das lässt sich spielerisch in den Kitaalltag integrieren.
Was muss also passieren, damit wir in fünf Jahren nicht immer noch über einen Mangel an Lehrerinnen und Erziehern sprechen müssen?
Ich bin zuversichtlich, dass wir – wenn wir all die kurzfristigen und langfristigen Maßnahmen konsequent umsetzen – in Zukunft ausreichend Personal haben werden. Ich sehe eher das Risiko, dass dieses Personal nicht ausreichend qualifiziert wird. Darüber hinaus müssen wir viel früher, konsequenter und verbindlicher Bildungsstandards umsetzen – nämlich schon in der Kita. Und wo während der Schulzeit bestimmte Mindeststandards nicht erreicht werden, müssen entsprechende Förderangebote gemacht werden.
Vielen Dank für das Gespräch.