„Russland war schon immer ein Volk von Besatzern“

Datum: Freitag, 08. März 2024 15:58


Symbolbild einer ukrainischen Familie – mit einer tatsächlich geflüchteten Mutter sprachen wir in diesem Interview. Foto: Anna, Adobe Stock

„Russland war schon immer ein Volk von Besatzern“

Viktorija* lebte mit ihrer Tochter (4) und ihrem Sohn (14) in der ostukrainischen Stadt Saporischschja. Kurz nach Kriegsbeginn kam die Familie nach Deutschland und fand Anfang März 2022 ein neues Zuhause in Cottbus. Der Krieg ist für sie auch hier präsent – und beutelt sie selbst über 1.800 Kilometer Distanz. In diesem Interview erklärt sie, warum Zugeständnisse für Russland für Ukrainer keine Lösung sind und appelliert an die Menschlichkeit, auf der ihre letzte verbleibende Hoffnung ruht.

Wie präsent ist der Krieg für Sie? Verfolgen Sie regelmäßig die Geschehnisse in Ihrem Heimatland?

Ich lese regelmäßig Nachrichten aus der Ukraine, leider wegen meiner Arbeits- und Tagesroutine nicht so oft wie früher – obwohl es sein kann, dass das schonend für mein Nervensystem ist. Aber ich erkundige mich auch über den aktuellen Zustand direkt bei meinen Bekannten und Freunden, die im Heimatland geblieben sind.

In Deutschland wird viel darüber diskutiert, ob und wann Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland angestrebt werden sollen. Wie ist die Haltung dazu unter Ukrainern?

Die Mehrheit der Ukrainer ist vollkommen desillusioniert und erwartet nichts Positives von Putins Russland. Im Gegensatz zu Westeuropa haben sich in allen ehemaligen Kolonien und ehemaligen durch Russland oder die Sowjetunion besetzten Staaten wie dem Baltikum, Polen, Finnland, der Republik Moldau und nicht zuletzt der Ukraine die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte und auch Jahrhunderte tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Putin geht es um Expansion und die Erweiterung des Territoriums. Er spricht den Staaten wie der Ukraine oder dem Baltikum ab, eigenständige Staaten zu sein. So etwas sagt er immer und immer wieder. Wie kann also ein Friede aussehen? Eine Beendigung der Kampfhandlung durch eine Kapitulation der Ukraine bei gleichzeitiger Aufgabe der Selbständigkeit. Putin wird nicht aufhören zu kämpfen und zu expandieren. Aber ich denke, die Ukraine kann sich noch sehr gut daran erinnern, wie wenig sie wert war unter der Fremdherrschaft der Sowjetunion. Ich denke, dass wir Ukrainer bis zum Schluss für unser Recht auf Freiheit und Demokratie kämpfen werden.

Ich hoffe auf sich plötzlich entwickelnde Ereignisse und Umstände, die die Situation radikal verändern werden, so etwas wie ein Wunder, und glaube, dass die Gerechtigkeit und Güte triumphieren sollen. Der beste realistische Ausweg ist der Zusammenbruch vom Regime in Russland durch strenge Sanktionen und innere Unzufriedenheit. Wenn wir das mit eigenen Kräften nicht erreichen können, sind wir auf Aufstand und Widerstand gegen das Regime in Russland sowie auf die Unterstützung der Europäischen Union und der gesamten demokratischen Welt angewiesen.

Haben Sie Verständnis für Menschen, die Russland aus persönlichen oder wirtschaftlichen Gründen als wichtigen Partner betrachten?

Ich gehöre zu der Kategorie von Menschen, für die das menschliche Leben, die Familie, sowie geistige und moralische Werte die wichtigste Richtschnur ist. Geld und materielle Güter sind nur notwendig, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen und komfortable Lebensbedingungen zu schaffen. Wie viel braucht der Mensch? Wie viele Möglichkeiten Geld zu verdienen gibt es? Die Aufrechterhaltung von Handels- und Geschäftsbeziehungen mit einem Aggressor-Land, das täglich ungehindert Zivilisten ausrottet, bedeutet für mich, daran beteiligt zu sein, diese Verbrechen bzw. diesen Völkermord zu finanzieren. Aber gilt nicht eigentlich Solidarität mehr, dass Menschen frei leben können (alle Menschen übrigens)? Sich täglich dafür entscheiden zu können, an welchen Gott sie glauben wollen? Manchmal frage ich mich, wie wir die Herzen und Seelen der Menschen in Westeuropa erreichen können. Den Menschen die Augen öffnen können für das viele Leid, das vor allem der Zivilbevölkerung in der Ukraine widerfährt. Es werden Menschen gequält und gefoltert, ukrainische Kinder werden zur Umerziehung deportiert nach Russland, Frauen werden systematisch vergewaltigt, weil diese Form der strukturellen Gewalt als Kriegswaffe genutzt wird. Ich habe viel Unterstützung erfahren in Deutschland und in Cottbus. Ich will fest daran glauben, dass die Cottbuser, wenn sie ihr Herz für das Leid der Zivilbevölkerung in der Ukraine öffnen, auch mehr Bereitschaft für ihre Unterstützung haben.

Wie ist Ihr Blick auf die Russen als einstiges „Brudervolk“? Unterschieden Sie dabei zwischen Staat und Menschen?

Ich bin traurig und auch erschüttert über das Schweigen der großen Masse in Russland. Ja und ich weiß, dass das russische Volk über Jahre auch mundtot gemacht worden ist. Wenn ich zurückschaue, gab es in der Vergangenheit immer wieder noch ein Aufbegehren und große Demonstrationen. Aber die Anführer dieser Demonstrationen sind alle umgebracht worden wie Boris Nemzov oder Alexej Nawalny. Ich glaube, dass die Russen ihre Vergangenheit nicht aufgearbeitet haben. Sie haben nie erkannt, welches Leid sie durch Zwangsbesetzung, Deportationen, Säuberungen, das Gulag-System oder die herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine, den Holodomor, verursacht haben. Diese Verdrängung oder fehlende Aufarbeitung führt dazu, dass heute 50 Prozent der Russen Stalin positiv gegenüberstehen. Das ist doch nicht normal. Russland ist für die wenigsten Ukrainer ein Bruder, sondern war immer schon ein Volk von Besatzern.

Wie viele Ihrer Freunde und Angehörigen sind in der Ukraine geblieben? Wie halten Sie Kontakt zu ihnen?

Fast alle meine Freunde und Bekannten sind in der Ukraine geblieben. Meine Eltern sind vor einem Jahr – Gott sei Dank – auch geflohen. Ich habe Kontakt zu allen, die in meinem „ehemaligen“ Leben präsent und wichtig waren. Wir telefonieren selten, aber am meisten kommunizieren wir über soziale Netze und Messengers, so erfahren wir Neuigkeiten und Nachrichten.

Wie haben Sie und Ihre Kinder sich in Cottbus eingelebt und wie sieht Ihr Familienalltag aus?

Im Grunde genommen haben wir uns schon eingelebt. Meinem Sohn fällt es schwerer, sich zu integrieren. Er hatte seine Träume und Pläne, sich weiter im Leistungssport zu entwickeln, die hier aktuell nicht umsetzbar scheinen und deswegen fühlt er sich frustriert. Meine Tochter hatte im ersten Jahr auch viel Stress, welchen die fremde Sprache und ganz andere Umgebung mit sich brachten. Ich wollte mich von Anfang an schnellstmöglich in Deutschland einbringen. Und ich hatte Glück, eine gute Arbeit zu finden, habe aktuell ein wunderbares Team, das mich immer unterstützt.

Was vermissen Sie aus Ihrer Heimat am meisten und was fehlt Ihren Kindern besonders?

Wir vermissen unsere Mentalität, unsere Freunde und unser sorgenloses Leben. Manche Abläufe in der Ukraine sind viel leichter und entspannter. Hier scheinen manche Sachen sehr kompliziert und umständlich zu sein, z.B. einen Arzt heutzutage zu finden, geschweige denn eine zweite Meinung zu kriegen. Mein Sohn sehnt sich nach dem Leben in der Ukraine, vor allem wegen der gescheiterten Pläne, was seinen Sport betrifft.

Welche Dinge gefallen Ihnen in Deutschland wiederum besser, als in der Ukraine?

Ich bewundere einige Sachen und würde sie gern in der zukünftigen Ukraine umsetzen lassen:

  • Möglichkeiten, die in Kitas sowie in Schulen geschaffen werden, dank denen das Kind lernt und die Welt um sich herum erkundet
  • Soziale Hilfe und soziales Netzwerk
  • Reanimation, Medizin und Krebsbehandlungsprogramme

Was könnten die Menschen in Cottbus und der Lausitz an ihrer Willkommenskultur für ukrainische Flüchtlinge verbessern?

Erstmal wollte ich mich im Namen aller ukrainischen Flüchtlinge herzlich für die Aufnahme bedanken. Ich verstehe, dass Flüchtlingszuzug zu Überforderung und Anstrengungen auf verschiedenen Gebieten geführt hat. Ich würde um Geduld, Verständnis, Einfühlungsvermögen bitten. Kriegsvertriebene sind nicht nach ihrem Wunsch geflohen, sind manchmal traumatisiert und bleiben oft von ihren Liebsten getrennt. Es gibt unter uns sehr viele intelligente, talentierte, ausgebildete und einfach tüchtige Menschen, die hier gezwungen sind, ein neues Leben aufzubauen. Mit eurer Unterstützung, Empathie und Glauben an uns könnte man viele Hindernisse überwinden.

Welche Tipps können Sie den Lausitzern geben, die sich für ukrainische Familien engagieren möchten?

Es ist nicht immer sehr leicht, jemanden aus dem Ausland zu betreuen. Es ist wie Arbeit mit Menschen, die nicht immer „belohnt“ wird, was manchmal in Verwirrung, Frustration oder Traumatisierung begründet ist. Alles, was euch leicht und selbstverständlich scheint, ist für die Ausländer eine Hürde, besonders stört die sprachliche Barriere. Es ist schön, wenn ihr gastfreundlich, offen, geduldig, hilfsbereit seid und uns zuhört.

*Name durch die Redaktion geändert.

Wir danken für das Interview.