Warum das 250 Jahre alte Knigge-Werk nichts an Aktualität verloren hat, ob es ein Schulfach „Gutes Benehmen“ braucht und wie wir unseren Kindern ohne erhobenen Zeigefinger Benimmregeln beibringen, verrät Ina Beyer-Graichen im Interview. Sie ist Zertifizierte Business Etikette Trainerin (IHK) und Vorstandsmitglied der Deutschen Knigge Gesellschaft.
Knigges Buch „Über den Umgang mit den Menschen“ ist fast 250 Jahre alt. Warum ist es auch heute noch aktuell? Warum braucht es die Deutsche-Knigge-Gesellschaft?
Unter dem „KNIGGE-Buch“ verstehen die meisten Menschen ein Regelwerk für Benimmregeln. Sie denken da an Besteck, Serviette und Mode. Dabei handelt es sich bei diesem Werk eher um eine soziopsychologische Studie über ein gutes und wertschätzendes Miteinander. Es gilt als frühes Werk der klassischen Ratgeberliteratur, verwurzelt in Aufklärung und Humanismus und man kann es als Basiswerk aller Regelwerke für gutes Benehmen bezeichnen. Gutes Benehmen, Wertschätzung und respektvoller Umgang sind zeitlos. Diese humanitären Ideen zu pflegen, zu verbreiten und Empfehlungen für gutes Benehmen dem Wandel der Zeit anzupassen sowie Interessierte darüber zu informieren und Ansprechpartner für die Medien zu sein, dafür steht die Deutsche-Knigge-Gesellschaft e.V. mit ihren ca. 280 Mitgliedern.
Wie in jeder Generation wird auch heute von den Erwachsenen oft über die schlecht erzogene Jugend geklagt. Was ist Ihr Eindruck?
„Die Jugend von heute ... hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt... und tyrannisiert ihre Lehrer.“ Diese Aussage ist von Sokrates, also ca. 2400 Jahre alt. Probleme und Missverständnisse zwischen den Generationen gab es schon immer. Mein Eindruck ist, dass sich Ältere oft über die junge Generation aufregen, aber selbst kein Vorbild sind. Ich empfinde rücksichtsloses Verhalten als keine Frage des Alters. Niemand sollte seine Erwartungshaltung nur auf andere projizieren, sondern mit gutem Beispiel vorangehen. Gutes Benehmen ist eine Geisteshaltung! So wie ich selbst behandelt werden möchte, sollte ich andere behandeln. Mit einem Lächeln kann man so viel bewirken und mit einer netten Geste ebenfalls. Unabhängig vom Alter!
Sind Kinder heute schlechter erzogen als noch vor 30 Jahren?
Kinder werden heute anders erzogen als ihre Eltern. So wie diese von ihren Eltern. Ob das immer richtig ist, wage ich zu bezweifeln. Die Auswirkungen dessen zeigen sich dann ja auch immer erst in der nächsten Generation. Autoritäre Erziehung ist genauso falsch wie antiautoritäre Erziehung – und die Helikopter- oder Rasenmäher-Eltern der heutigen Zeit machen wieder ihre Fehler. Man könnte meinen, jede Generation möchte es besser machen als die vorige. Neue Ideen sind gut, trotzdem sollten wir auch Werte und Traditionen beibehalten, denn diese sind das Fundament einer Kultur. Ein Austausch zwischen Eltern und Großeltern findet leider nicht mehr so intensiv statt wie in Zeiten, da man noch näher beieinander wohnte. Statt die Oma zu befragen, wird im Internet nach einer Lösung gesucht. Oder es werden Stapel von Büchern gelesen, anstatt einfach mal nur seiner eigenen Intuition zu folgen. Glauben Sie mir, als ehemalige Hebamme könnte ich selbst Bücher füllen!
Wie viel Knigge darf und sollte für Kinder heute überhaupt noch sein, ohne als spießig oder zu streng zu gelten?
Kinder mit Regeln zu konfrontieren ist richtig und wichtig, denn die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft und bereitet jeden kleinen Menschen auf das Leben vor. Denken wir doch nur, was es für ein Chaos im Straßenverkehr gäbe, würden wir keine Regeln beachten! Kindern Grenzen zu setzen, muss sie nicht in ihrer Entwicklung einschränken, sondern bietet ihnen Schutz. Sie zu Empathie statt zu Egoismus zu erziehen und ihnen etwas zuzutrauen, statt ihnen vieles abnehmen zu wollen, fördert ihr Selbstvertrauen. Dazu gehören eben auch die Regeln guten Benehmens, die auf ein wertschätzendes Miteinander mit anderen Menschen abzielen. Mit dieser Erziehung kann man gar nicht zeitig genug beginnen und tut es automatisch, indem man in der Familie freundlich und rücksichtsvoll miteinander umgeht. Kinder spiegeln das Verhalten ihrer Eltern.
Kleine Kinder tun sich noch schwer mit Benimmregeln: Sie spielen mit dem Essen, bohren in der Nase und plappern einfach drauf los. Gibt es eine Altersgrenze, ab wann man von Kindern gutes Benehmen erwarten kann?
Es wäre falsch, feste Altersangaben anzugeben. Jeder Charakter ist anders und jedes Kind entwickelt sich motorisch und sprachlich unterschiedlich. Eltern sollten jedoch jede Gelegenheit ergreifen, diese Fähigkeiten zu nutzen. Sei es die erste Gelegenheit, wenn das Baby nach einem Löffel greift und versucht, den Mund zu treffen. Als Kleinkind wird es dann die Gabel für sich entdecken, später das Messer. Schade wäre es, ein Kind bis zum Schuleintritt nur mit Händen und Löffel essen zu lassen und dann zu erwarten, dass es plötzlich mit dem Besteck funktioniert. Wenn es für Eltern selbstverständlich ist, zu bitten und zu danken, wird es auch das Kind mit Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit übernehmen. Auch das Nasebohren und das Hineinplappern in Gespräche verschwindet mit der Zeit. Eltern müssen nur immer wieder daran erinnern. Irgendwann gelingt dies dann sogar nur noch mit Gesten. Ganz wichtig: Das Loben nicht vergessen und Situationen immer wieder reflektieren!
Wie bringen Eltern ihren Kindern am besten die wichtigsten Benimmregeln bei, ohne diese ständig zu ermahnen und zu korrigieren?
Die einfachste Methode ist es, gutes Benehmen vorzuleben. Korrigiert werden muss altersentsprechend immer wieder, aber irgendwann klappt es. Doch spätestens in der Pubertät geht alles wieder von vorne los! Vermieden werden sollte lautstarke Kritik vor anderen. Wichtig ist es, immer zu erklären, warum man dies so und jenes anders macht. Das Verstehen ist der einfachste Schritt zum Befolgen einer Regel, aber natürlich muss immer wieder einmal daran erinnert werden.
Wo außer in der Familie können Kinder noch gutes Benehmen erlernen?
In Kitas und Schulen sollte es selbstverständlich sein, auf den wertschätzenden Umgang zu achten, nach Regeln des guten Benehmens zu leben und diese vorzuleben. Es gibt für jede Altersgruppe passende Bücher, die Kinder zu freundlichem Verhalten inspirieren und Regeln erklären. Immer beliebter werden Knigge-Kurse für Kinder und Jugendliche mit dem Schwerpunkt Tischetikette. Dabei decken sie selbst eine festliche Tafel, erleben mehrere Gänge guten Essens und perfektionieren dabei den Umgang mit Serviette, Besteck und Gläsern. Eltern machen oft die Erfahrung, dass ein Knigge-Trainer als Außenstehender mehr erreicht. Dabei knüpfe ich nur an das an, was zu Hause „in der guten Kinderstube“ bereits erklärt wurde.
Wäre ein Schulfach „Gutes Benehmen“ wünschenswert?
Oh ja, das wäre es! Das Thema ist so vielschichtig und umfangreich. Es begleitet uns ein Leben lang und macht so vieles einfacher. Empathie, Wertschätzung, respektvolles Miteinander, positive Kommunikation, situationsgerechtes und anlassgerechtes Verhalten sind Wegbereiter für die spätere berufliche Entwicklung, aber auch wichtig für das Privatleben und eine intakte Beziehung. Um Toleranz und Akzeptanz zu erlernen, bedarf es so viel Zeit und Übung. Meiner Meinung nach sollte das Erlernen dieser Fähigkeiten keinem naturwissenschaftlichen Fach nachstehen. Einige Schulen nutzen bereits Projekttage für Knigge-Kurse. In der Deutschen-Knigge-Gesellschaft e.V. wurde das Konzept „Höfliche Schule“ entwickelt. In Sachsen habe ich deshalb in diesem Jahr ein Projekt gestartet: Jede Klasse darf sich nach absolviertem Knigge-Kurs mit dem Zertifikat der DKG als „Höfliche Klasse“ bezeichnen. Haben mehrere Klassen diese Kurse belegt, kann sich die Schule als „Höfliche Schule, zertifiziert durch die Deutsche Knigge Gesellschaft“, schmücken. Interessierte Schulen können sich über meine Homepage www.ibg-coaching.de melden.
Welche Rolle haben Knigge und gutes Benehmen in Ihrer Kindheit gespielt?
Dieses Thema begleitet mich schon ein Leben lang. Meine geliebte Großmutter, im Jahr 1907 geboren und mehrere Gesellschaftssysteme erlebt, legte stets großen Wert darauf, dass sich ihre Enkeltöchter höflich und freundlich benahmen. Sie erklärte uns immer wieder, wie wichtig es sei, anderen Menschen, egal welchen Alters und welcher Abstammung, Wertschätzung entgegenzubringen. „Ein Lächeln öffnet Türen und Herzen“, das war ihr Spruch. Durch Märchen bewies sie uns Kindern immer wieder, dass das Gute über das Böse siegt und dass man mit Fleiß und Freundlichkeit alles erreichen könne. Das hat mich tatsächlich sehr geprägt. Dem folgten natürlich Bücher mit Benimm-Regeln für jedes Alter, allem voran das Standardwerk Adolph Freiherr von Knigges „Über den Umgang mit Menschen“.
Wie sind Sie selbst zum Thema Knigge gekommen?
Ich habe über ein Vierteljahrhundert als Hebamme gearbeitet. Daher ist mir der Umgang mit Menschen jeden Charakters und jeder Lebenseinstellung vertraut. Der Spruch meiner Großmama bewahrheitete sich in fast jeder Lebenssituation. Während eines mehrjährigen Aufenthalts in den USA absolvierte ich eine Ausbildung zur Interkulturellen Trainerin und bemerkte, wie sich „Knigge“ durch alle Kulturen zieht. Natürlich abgewandelt entsprechend des jeweiligen Kulturkreises, aber Wertschätzung und respektvoller Umgang mit anderen Menschen sind nun einmal Grundpfeiler der meisten Kulturen. Die Business-Etikette ist Bestandteil des täglichen Berufslebens in allen Ländern. Deshalb ergänzte ich meinen neuen Beruf bei Rückkehr nach Deutschland noch mit einer Ausbildung zur Business-Etikette-Trainerin an der Knigge Akademie und bin Mitglied im Vorstand der Deutschen-Knigge-Gesellschaft e.V..
Wir danken für das Interview.