„Wir sparen die Zukunft unserer Kinder weg“

Datum: Montag, 01. September 2025 14:23

Der GEW-Brandenburg-Vorsitzende Günther Fuchs blickt auf das neue Schuljahr

Herr Fuchs, wie lautet Ihr Fazit für das zurückliegende Schuljahr?

Es war ein schwieriges Schuljahr. Wir hatten sehr viele Probleme bezogen auf die Unterrichtsversorgung. Der Unterrichtsausfall war groß, was unter anderem an einem sehr hohen Krankenstand lag. Zusätzlich haben die Diskussionen der Landesregierung um den neuen Doppelhaushalt 2025/26 die Situation verschärft.

Inwiefern?

Wir standen vor der Frage der Entfristung bei der Neueinstellung von Lehrkräften. Das ist durch die Haushaltsdebatten obsolet gewesen. Zusätzlich haben viele junge Menschen, die wir einstellen konnten oder wollten, das Land verlassen, weil lange Zeit gar nicht eingestellt wurde. Es wurden auch Zusagen gemacht, bezogen auf die Einstellungen an bestimmten Schulen, die jetzt nicht eingehalten werden können, weil man die berechtigte Sorge hat, dass die Stellenausstattung der Schulen schlechter wird. Dabei sind die Belastungen in den Schulen sowohl für Lehrkräfte, aber auch für Schülerinnen und Schüler schon jetzt immens hoch. Daher war es leider nicht möglich, einen Aufholprozess zu starten, damit wir bezogen auf die Schülerleistungen zumindest im bundesrepublikanischen Mittelfeld ankommen.

Die Landesregierung hat angekündigt, Stellen zu streichen statt zu schaffen. Zusätzlich sollen die Lehrkräfte ab dem zweiten Schulhalbjahr eine Stunde mehr unterrichten. Wie blicken Sie unter diesen Voraussetzungen auf das neue Schuljahr?

Wir stehen vor einem ganz schwierigen Schuljahr. Wir haben unterschiedliche Problemkreise, mit denen die Schulen konfrontiert werden. Zum einen ist es so, dass man ein Schuljahr beginnt und im Schulhalbjahr den Einsatz der Lehrkräfte durch die Arbeitszeitverlängerung neu planen muss. Das ist ein Novum und es birgt eine hohe Unsicherheit, weil niemand weiß, welche konkreten Auswirkungen das auf den Einsatzplan der Lehrkräfte in den Schulen haben wird. Das ist unverantwortlich gegenüber den Schulleitungen, die diesen Prozess zweimal durchlaufen müssen. Die zweite Herausforderung besteht darin, dass wir mit dem neuen Schuljahr ca. 4.000 Kinder mehr haben. Also die Schülerzahl steigt und die Lehrerstellenzahl wird gekürzt. Wir erwarten somit auf der einen Seite ein schulorganisatorisches Chaos. Auf der anderen Seite werden die Bedingungen in den Schulen noch schwieriger und unattraktiver.

Was könnten die Folgen sein?

Wir rechnen damit, dass viele Kolleginnen und Kollegen, die jetzt in Vollzeit sind, durch die weiter steigenden Arbeitsbelastungen über Teilzeitarbeit nachdenken. Damit werden die Pläne der Landesregierung aber zu einer Milchmädchenrechnung. Die Hoffnung, durch eine Arbeitszeiterhöhung den Unterricht besser abzusichern, wird sich nicht erfüllen. Das Gegenteil wird der Fall sein. Wir werden sehr viele Lehrkräfte verlieren. Im Übrigen werden auch die Qualifizierungen für Seiteneinsteigende ausgesetzt. Das alles führt zu einer dramatischen Veränderung in der Lehrer-Schüler-Relation. Ich gehe davon aus, dass wir auch in dieser Hinsicht zum Schlusslicht in Deutschland werden. Das heißt die Klassen werden noch voller, die Bedingungen für das Lernen und das Lehren noch schlechter.

Haben Sie dazu konkrete Zahlen?

Die alte Regierungskoalition hatte sich darauf verständigt, eine Lehrer-Schüler-Relation von 1 zu 14,5 festzuschreiben. Das hieß also, wenn die Schülerzahlen nach oben gingen, dann hatte man mehr Lehrerstellen im System. Ob man die alle besetzen konnte, das war eine ganz andere Frage, aber das war ein gewisser Automatismus. Das wurde durch die neue Landesregierung nicht mehr festgeschrieben. Durch die neuen Regelungen und die Entwicklung der Schülerzahlen haben wir in Brandenburg jetzt eine Lehrer-Schüler-Relation von 1 zu 20. Und da sind noch nicht mal Abordnungen oder Lehrerausbildungsmaßnahmen eingerechnet. Gleichzeitig wird die Vertretungsreserve gekürzt. Die Schulen haben also weniger Möglichkeiten, zusätzliches Lehrpersonal vorzuhalten. Besonders hart betroffen sind die Grundschulen und die Oberschulen. Sie können kaum noch Förderunterricht anbieten. Damit fällt jede Möglichkeit der individuellen Förderung faktisch weg, sowohl was Begabungen betrifft, als auch dort, wo man zusätzliche Unterstützung gewähren muss. Die Klassen sind übervoll und die Heterogenität nimmt weiter zu. Es ist ein gravierender Eingriff, den man durch diese Haushaltsbeschlüsse verursacht hat. Er ist unverantwortlich.

Gilt das für ganz Brandenburg?

Nein, die Schülerzahl wächst nicht überall kontinuierlich auf. Die Folge ist aber, dass die regionalen Unterschiede im Land noch größer werden. Wir haben einerseits Regionen, wo es noch schwieriger wird, die Schulen zu erhalten, weil es nicht genug Kinder gibt. Und gleichzeitig gibt es in bestimmten Hotspots Zuzug. Das hat etwas damit zu tun, dass der Speckgürtel um Berlin immer größer wird, im Norden reicht er bis Eberswalde, im Süden bis Finsterwalde. Andererseits haben wir Regionen wie die Lausitz, die Uckermark oder die Prignitz, wo die Schülerzahlen zurückgehen werden.

Die Landesregierung argumentiert, dass es in den meisten anderen Bundesländern schon diese 28 Stunden gibt und Brandenburg jetzt eigentlich nur nachzieht. Gehen Sie da mit?

Tatsächlich ist die Arbeitszeit der Lehrkräfte eine sehr theoretische Größe. Wenn ich zum Beispiel nach Berlin schaue, dort haben die Grundschullehrkräfte mit ihren 28 Wochenstunden Unterrichtszeit jede Menge Möglichkeiten für Anrechnungsstunden wie Klassenleitung, Fachkonferenzleitung und vieles mehr. Das heißt wenn sie bestimmte Tätigkeiten übernehmen, die über den normalen Unterricht hinausgehen, müssen sie weniger unterrichten. Solche Anrechnungsmöglichkeiten gibt es in Brandenburg kaum. Und wenn man also die tatsächliche Arbeitszeit am Kind – im Unterricht – vergleicht, dann funktioniert das Argument nicht mehr. Dazu kommt, dass die Laufbahnen und die Einkommen für Lehrkräfte in anderen Bundesländern besser sind. Der Lehrerberuf wird dadurch bei uns noch unattraktiver.

Wie will die GEW jetzt weitermachen?

Es ist zuerst einmal so, dass die politische Auseinandersetzung nicht zu Ende sein wird. Es ist eine Illusion der Landesregierung zu glauben, wir gehen zur Tagesordnung über. Das werden wir nicht tun. Das Zweite ist, dass wir juristische Schritte dazu prüfen und vorbereiten. Denn man kann nicht einfach sagen, ich erhöhe die Pflichtstunden, sondern man muss glaubhaft in der Arbeitszeit Entlastungen festlegen, damit die wöchentliche Gesamtarbeitszeit nicht überschritten wird.

Die Landesregierung hat bereits erste Maßnahmen zur Entlastung angekündigt…

Ja, aber das ist ein bunter Blumenstrauß von teilweise kabarettistischen Einlagen. Sie sieht beispielsweise die Vergabe von E-Mail-Adressen als Arbeitserleichterung. Da kann ich Ihnen glaubhaft versichern, seitdem ich eine E-Mail-Adresse habe, habe ich nicht weniger zu tun. Und auch die digitalen Endgeräte bringen keine Arbeitsentlastung, wenn diese einfach nicht funktionieren und solange der Breitbandausbau nicht parallel passiert. Oder wenn ich eine Prüfung streiche, wie in Klasse 10 am Gymnasium, dann ist das nur für einen Teil der Lehrkräfte eine punktuelle Entlastung, aber kein Äquivalent für eine Arbeitszeiterhöhung von allen.

Die Landesregierung hat Ihnen ein Gesprächsangebot unterbreitet, gemeinsam über mögliche Entlastungsmaßnahmen zu diskutieren. Das lehnen Sie ab.

Richtig, wir werden mit der Landesregierung über Entlastungen nicht reden, weil wir bereits im Juli 2024 mit dem Bildungsministerium eine Vereinbarung geschlossen haben. Darin steht, dass die Arbeitsbelastung abgesenkt werden muss bei den aktuell geltenden Unterrichtsverpflichtungen. Und jetzt sagt das Ministerium: Das interessiert uns alles gar nicht mehr, die Entlastung können wir jetzt nutzen, um die Pflichtstundenzahl zu erhöhen. Da sage ich Ihnen mal ganz offen, wir wären ja mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn wir jetzt etwas anderes beschließen. Die Regierung will im Grunde eine Vereinbarung, die sie bei Gericht vorlegen kann, damit am Ende gesagt wird: Die Entlastungen sind doch da, die Gewerkschaft hat doch zugestimmt. Das werden wir nicht tun. Wir reden im Grunde auch nicht um Entlastung von 45 Minuten. Wenn man Vor- und Nachbereitungszeiten dazu nimmt, dann müssen wir über mindestens 90 Minuten pro Woche reden. Und da möchte ich schon mal wissen, wie viele Konferenzen nicht mehr stattfinden müssen, um diese Arbeitszeit auszugleichen. Das wird nicht funktionieren. Und deswegen wird es auch diese Gespräche nicht geben.

Zumindest an einer Stelle stellt das Ministerium mehr Mittel bereit: Für das Vertretungsbudget stehen 18,1 Mio. Euro zusätzlich zur Verfügung. Reicht das aus Ihrer Sicht aus?

Bisher lag das Vertretungsbudget bei etwa zwölf Millionen Euro. Das ist also gar nicht so viel mehr Geld. Der zweite Punkt ist die Vertretungsreserve. Da wird gekürzt: Bisher hat jede Schule dafür einen Stellenanteil von zwei Prozent gehabt. Das heißt, zwei Prozent der Lehrerstellen wurden zusätzlich in die Schule gegeben als Vertretungsreserve. Die werden jetzt gekürzt auf 1,5 Prozent. Die Regierung streicht also Lehrerstellen und erhöht das Vertretungsbudget. Das heißt sie nimmt qualifizierte Stellen weg und schafft einen grauen Arbeitsmarkt. Denn darüber müssen keine Lehrkräfte eingestellt werden, das ist eine Deprofessionalisierung. Wenn die Regierung tatsächlich will, dass der Unterricht qualitativ abgesichert wird, dann muss sie die Vertretungsreserve deutlich erhöhen. Aber genau das Gegenteil passiert. Stattdessen lobt sie sich für ein Vertretungsbudget, das hinten und vorne nicht ausreicht und Honorarkräfte einstellt, die teilweise noch nicht einmal qualifiziert sind.

Nun haben wir aber ein großes Haushaltsdefizit. Können Sie ein Stück weit verstehen, dass die Landesregierung sagt, das Geld ist einfach nicht da?

In den Bildungsausgaben ist Brandenburg leider noch nie in der Poleposition gewesen, im Gegenteil: Wir waren und sind immer unterdurchschnittlich. Aber wir wundern uns dann am Ende über die Lernergebnisse von Schülerinnen und Schülern. Das ist also ein Problem, dass uns schon mindestens 20 Jahre umtreibt und jetzt setzen sie noch einen oben drauf. Das ist mehr als nur ärgerlich, weil wir die Zukunft der Kinder wegsparen. Auch die Chancengleichheit für die Kinder im Flächenland geben wir gerade auf. Was wir erleben, ist eine kreative Mangelverwaltung. Hier setzt sich die Haushaltspolitik durch, und die sagt, wir wollen nur so und so viel Geld ausgeben für Bildung, und dann war’s das. Das ist ein fiskalisches Durchregieren und nichts weiter. Das Land hat kein Konzept, was die Bildungspolitik betrifft. Wenn ich weniger Geld habe, dann muss ich Prioritäten setzen. Und diese Prioritätensetzung findet im und für den Bildungsbereich nicht statt. Ich glaube, man hätte sich gemeinsam hinsetzen und überlegen können, wie gehen wir mit der Situation um. Das hat die Landesregierung nicht gemacht, sondern sie hat eine einseitige Maßnahme ergriffen.

In einem Jahr greift der vom Bund eingeführte Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder, zunächst ab Klasse 1. Sehen Sie Brandenburg da gut aufgestellt?

Auch hier gibt es bisher kein Konzept – weder ein personelles, noch ein räumliches oder ein inhaltliches. Wir müssen aber klären, wie wir die zusätzliche Nachfrage durch den Rechtsanspruch umsetzen wollen. Dazu kommen viele weitere Fragen, zum Beispiel: Wie koordinieren wir den Schülerverkehr dazu? Wie ist es mit der Essensversorgung? Die Landesregierung schiebt die Verantwortung dafür wieder an die Träger ab. Da beginnt schon das eigentliche Dilemma, denn das sind bei den Horten meist die Kommunen oder freie Träger und nicht die Schulen. In Brandenburg sollen die Schulen mit freien Trägern Verträge schließen. Andere Bundesländer sind andere Wege gegangen, die Horte in Thüringen und in Sachsen-Anhalt sind in Landesträgerschaft. Und dann kommt in Brandenburg noch die Situation hinzu, dass der Bundesgesetzgeber von einer verlässlichen Ganztagsgrundschule von 1 bis 4 ausgeht, aber die Grundschule bei uns bis Klasse 6 geht.

Lassen Sie uns zum Schluss noch auf die Kitas schauen. Während wir an den Schulen deutlich mehr Kinder haben, werden es an vielen Kitas weniger. Drohen da Entlassungen?

Wir haben auch in Brandenburg die Situation, dass es in bestimmten Regionen Überhänge gibt an Kita-Plätzen. In anderen gibt es nach wie vor noch Wartelisten. Allerdings bekomme ich das Personal aufgrund der teils großen Entfernungen nicht automatisch dorthin, wo eine Warteliste ist. Generell glaube ich, dass wir die Situation nutzen sollten, um über Qualitätsverbesserungen zu reden. Beim Betreuungsschlüssel gehört Brandenburg zu den Schlusslichtern in Deutschland. Daher sollte man die Chance jetzt nutzen und die Gruppen kleiner machen. Man braucht auch in den Kitas eine Vertretungsreserve. Und man muss die mittelbaren pädagogischen Tätigkeiten anerkennen. Auch eine Erzieherin braucht Vor- und Nachbereitungszeit, braucht Zeit für Elternarbeit. Wenn wir das umsetzen, dann haben wir keinen Überhang mehr.

Wie sagt denn die Landesregierung zu diesen Vorschlägen?

Die Landesregierung macht die übliche Vogel-Strauß-Politik: Kopf in den Sand stecken und warten, dass der Sturm vorbeigeht. Daher gründen wir gerade ein Aktionsbündnis, um den Druck zu erhöhen. Es ist ja nicht so, dass der Haushalt besser wird, sondern wir werden auch in den nächsten Jahren strukturelle Haushaltsdefizite haben. Und die spannende Frage wird sein, wie gelingt es in den nächsten Jahren die Kita-Finanzierung in trockene Tücher zu bringen. Die vorhandenen Ressourcen müssen mindestens erhalten bleiben, eigentlich bräuchten wir noch mehr. Das Bündnis werden wir voraussichtlich im September in der Öffentlichkeit präsentieren. Natürlich wollen wir das auch mit Eltern gemeinsam machen, ich denke beispielsweis an die Initiative Kita-Kollaps. Wir brauchen weiter den Druck auf die Landesregierung, weil die Auseinandersetzungen im Kita-Bereich nicht einfacher werden.

Danke für das Interview.