
© Manfred Baumann
Streit hat ein schlechtes Image – zu Unrecht, sagt Birte Karalus. Im Interview verrät die Moderatorin und Autorin, wie Streit eine positive Kraft entfalten kann und was Eltern tun können, damit schon Kinder einen guten Umgang mit Konflikten lernen. Außerdem hat sie ein paar Erste-Hilfe-Tipps, falls es Weihnachten zum Zoff kommt.
Sie arbeiten als Konsensfinderin und begleiten Konflikte in Unternehmen, Organisationen und im öffentlichen Raum. Was ist Ihrer Erfahrung nach der häufigste Grund, warum Konflikte eskalieren?
Konflikte eskalieren, weil wir es schlichtweg nicht gelernt haben, uns zu streiten. Wir erleben die Kritik als fordernde Beschwerde, als Angriff, der oft ohne Vorwarnung gegen uns gerichtet wird und reagieren meist gekränkt mit einer Gegenoffensive. Gestritten wird zu spät, vorurteilsbehaftet und manchmal sogar unversöhnlich. Es wird nicht darauf geachtet, dass der richtige Zeitpunkt, der richtige Ort und die richtigen Worte gewählt werden. Somit ist die Chancen vertan, die Auseinandersetzung zu suchen, um zu verstehen, wo es knirscht, warum es so nicht weitergehen kann. Beziehungen und Bindungen können zerbrechen und vor allem geht viel Zeit verloren, um eine tragbare Lösung zu erstreiten.
In Ihrem Buch „Lasst uns streiten!“ sprechen Sie von Streit als einem notwendigen Bestandteil gelingender Kommunikation – nicht als etwas, das per se vermieden werden sollte. Was war für Sie der Auslöser, diesen Perspektivwechsel von „Vermeidung von Konflikt“ hin zu „Streit als Chance“ so deutlich zu formulieren?
Durch meine Arbeit bekam ich einen intensiven Blick hinter die Kulissen vieler Unternehmen und Institutionen und damit einen Einblick in die Entstehung und Dynamik von Konflikten und war überrascht, wie „selbstverständlich“ aus handelbaren Problemen Krisen und auch manchmal Katastrophen wurden. Einfach, weil man dem Streit aus dem Weg ging. Anstatt für Klarheit zu sorgen, legte man den viel zitierten Teppich des Schweigens, des Ignorierens darüber, in dem stillen Einverständnis, dass so die Probleme schon verschwinden würden. Was – oh Wunder – in den seltensten Fällen passierte. Im Gegenteil, unter diesem Teppich gärte es, die Probleme bekamen eine Eigendynamik und brachen mit einer Wucht plötzlich unkontrolliert hervor. Meine langjährige Erfahrung zeigt: Wenn wir aus den Sackgassen herauswollen, müssen wir in die Auseinandersetzung hinein. Anstatt die Dysbalancen unter den Teppich zu kehren, gehören die Reibungsthemen auf den Tisch. Ich muss verstehen können, warum die Dinge in einer Schieflage sind, um sie anzugehen
Ihr Buch trägt den Untertitel „Wie Auseinandersetzungen uns wieder zusammenbringen“. Das klingt paradox – Streit als Verbindung statt Spaltung. Wie kann dieser Perspektivwechsel in einer Gesellschaft gelingen, die in vielen Themen immer noch gespalten scheint?
Wie Auseinandersetzungen uns zusammenbringen können, finde ich hingegen stringent. Wir kommen mit so vielen Menschen, mit all ihren individuellen Vorstellungen, Anliegen, Werten und Erwartungen zusammen, dass es zwangsläufig zur Reibung kommt. Auseinandersetzen heißt, die Reibungsthemen auf den Tisch zu legen, um zu verstehen, warum der andere so tickt, wie er es tut und man selbst die Möglichkeit hat, zu erklären, warum einem die eigene Sichtweise so wichtig ist und warum man nicht willens ist, Situationen einfach hinzunehmen. Allein dieser Austausch beruhigt unsere Erregungsspirale ungemein und nicht selten kommt es zu der Erkenntnis, dass man in der Sache gar nicht so weit auseinanderliegt. Eine erzwungene Harmonie hingegen, um des sogenannten lieben Friedens willen, ist teuer erkauft. Man muss sich auf Dauer verbiegen, kann vielleicht sein Potenzial nicht ausleben. Vor allem aber geht wertvolle Zeit verloren für eine bessere gemeinsame Lösung, die man hätte erstreiten können.
Richtig angegangen kann Streit eine Kraft sein, die so vieles schafft: Missverständnis-Aufklärer, Blockade-Auflöser. Sie ist Verständigungskraft und auch Beziehungsverstärker, die uns als Menschen näher zusammen bringen kann.
In sozialen Medien und im öffentlichen Diskurs scheint Streit häufig in Polarisierung zu enden – nicht in Verständigung. Können wir als Gesellschaft vielleicht in der kleinen Einheit Familie gutes Streiten lernen, um auch gesellschaftlich wieder „besser“ zu streiten?
In der Öffentlichkeit nehme ich auch eher Gezänk, Frontalangriff oder Totschweigen war. Nachahmungswürdige Streitvorbilder sind hier kaum zu finden. Es ist nicht der Streit, der Probleme schafft, es ist die Art und Weise, wie wir miteinander streiten. Deswegen hat Streit auch ein so schlechtes Image. Wobei wir verstehen sollten, dass unsere Streitkultur wir alle sind. Diejenigen, die sich lautstark in erster Reihe produzieren, aber auch die große Masse, die schweigend zusieht und dadurch akzeptiert.
„Charity begins at home“ ist ein Zitat aus dem englischen Sprachraum – „Nächstenliebe beginnt Zuhause“. Werte werden in der Familie vermittelt und dort auch gelebt, ob nun ganz bewusst oder eher passiv – sie prägen die Familienmitglieder. Ich glaube, wir alle kennen das 11. Gebot: „Hört endlich auf zu streiten! Vertragt euch!“ Auf der einen Seite mehr als verständlich, aber wie soll das gelingen? Denn die Probleme, die Kinder nun einmal haben, ob es darum geht, wer das Spielzeug bekommt oder auch der Kampf um elterliche Aufmerksamkeit, lösen sich nicht einfach in Luft auf, nur weil einem gesagt wird, dass man aufhören soll, darum zu kämpfen. Kinder sind sicherlich nicht emotional einfältig, im Gegenteil, sie haben ein besonders feines Gespür für die Schwingungen in der Familie und Kinder ahmen nach.
Wie kann echte Harmonie entstehen, wenn ich die Bedürfnisse, des Andern nicht kenne? Wenn ich nicht weiß, warum er wütend ist, sich hintenangestellt fühlt oder Angst hat. Was hilft, wie so oft, ist Zeit. Sich Zeit zu nehmen, um zu verstehen, worum es im Streit eigentlich geht. Keine schnellen Pauschallösungen oder gar Bestrafungen und Verurteilungen, sondern wirklich echtes, empathisches Zuhören. Seinen Kindern Konfliktfähigkeit mitzugeben, macht sie unglaublich stark und widerstandsfähig und stärkt ihre Beziehungsfähigkeit – ein großer Gewinn für den Einzelnen, vor allem aber auch für die Gesellschaft.
Im Buch schreiben Sie, dass es nicht so sehr um „Streittechniken“ geht, sondern um eine Haltung gegenüber Konflikten. Welche drei Haltungselemente würden Sie als besonders zentral bezeichnen? Und lassen sich diese auch auf Familienkonflikte übertragen?
Ob ein Konflikt sich furchtbar oder fruchtbar entwickelt, darauf habe ich einen großen Einfluss und es ist weniger eine Frage der guten Technik, als vielmehr der inneren Haltung. Diese prägt das menschliche Klima, gerade in einem Konflikt: Bin ich lösungsorientiert und beziehungserhaltend, offen für andere Meinungen, kann ich eventuelle Irrtümer eingestehen? Grundsätzlich gilt: Je gefestigter, je mehr ich mit mir selbst im Reinen bin, um so weniger muss ich in einem Streit „lautstark“ auf den Anderen zeigen. Wenn ich mich auf drei Haltungspositionen festlegen sollte, wären es folgende: Augenhöhe: Ich handle weder aus einer gefühlten Position über- oder unterlegen zu sein. Respekt: für mein Gegenüber, auch wenn er eine andere Meinung hat oder gerade dann. Anständigkeit: kein Tricksen. Ich behandle den Anderen so, wie ich behandelt werden möchte. Dieses Grundverhalten ist ein Angebot an mein Gegenüber zu einer guten Auseinandersetzung zu kommen, an deren Ende eine gemeinsame Lösung steht oder wenigsten die Erkenntnis, dass, wenn wir in der Sache nicht zueinanderfinden, wir uns als Menschen ein ganzes Stück nähergekommen sind. Was manchmal ein starker Anfang für etwas Neues sein kann. Ich bin überzeugt, dass diese Haltung gerade in Familien ein starkes, gefestigtes Miteinander erzeugt
Sie arbeiten häufig mit Erwachsenen in komplexen Konflikten – wie lässt sich Ihre Expertise – etwa aus Verhandlungsführung und Moderation – auf das familiäre Miteinander übersetzen? Gibt es Methoden, Tools oder Denkweisen, die Eltern unkompliziert adaptieren können?
Das wichtigste Tool, um in einem Konflikt konstruktiv und beziehungsfreundlich voranzukommen, ist Zuhören. Dem anderen seine Zeit zu geben und mit der Aufmerksamkeit ganz bei ihm zu sein.
Was sagt der andere und was nicht? Für gutes Zuhören brauche ich echtes Interesse am Anderen – warum er so reagiert und wie er es tut? Gleichzeitig sollte ich mich mit dem eigenen Urteil zurückhalten. Durch Zuhören erfahre ich mehr. Es gibt die Möglichkeit, Klarheit zu erlangen, Missverständnisse zu vermeiden oder aufzuklären. Zuhören stärkt die Beziehungsebene und das zwischenmenschliche Klima. Es ist eine wahre Wunderwaffe und die Königsdisziplin der Freundlichkeit. Hier können sich sogar die festgefahrensten Konflikte auflösen und im übrigen auch rechtzeitig neue Konflikte vermieden werden.
Mein Rat: Nehmen Sie sich fürs Zuhören Zeit – wer hier abkürzt, weil er glaubt, schon zu wissen, was der Knackpunkt ist, landet oft im Abseits.
Sie haben in verschiedenen Interviews betont, dass Streit oft ein Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse ist. Übertragen wir das mal auf Familien. Wie können Eltern lernen, die eigentlichen Bedürfnisse hinter dem Streit ihrer Kinder zu erkennen – und wie sprechen sie darüber, ohne zu werten?
Hier komme ich noch einmal auf die vorherigen Punkte zurück. Kinder fühlen, mit welcher Intention man mit ihnen spricht. Die richtige Haltung ist wichtig, Empathie und das ehrliche Interesse, verstehen zu wollen, wie es zu diesem Konflikt gekommen ist und erstmal nicht zu urteilen. Was ich höre und sehe, lässt in die Seele blicken und damit habe ich Verantwortung, wie ich mit dem Gehörten umgeht. Ich habe für mich das Bild kreiert, dass ich bei Konfliktgesprächen mit meinem Gegenüber eine Brücke teile, auf der wir während der Verhandlung stehen. Ich kann sie wieder verlassen, ich kann sie abbrechen, sie kann aber auch für „immer“ eine Verbindung sein, die wir gemeinsam aufgebaut haben. Betrachten Sie diesen Vorgang ruhig so sensibel und wertschätzend. Was liegt nun hinter dem Offensichtlichen, welche Bedürfnisse wurden – vielleicht unbewusst – getriggert? Sich selbst zurücknehmen, mitfühlen, sich einfühlen, nachfragen, wenn man etwas nicht verstanden hat, Zeit lassen. Was sind die Empfindungen bei dem, der spricht, aber auch bei dem, der zuhört? Das hat viel mit Selbsterkenntnis (auf beiden Seiten) zu tun, die gar nicht selten, erst in einem solchen Gespräch offensichtlich wird. Das alles mag sich anstrengend anhören, ist es vielleicht auch, aber es lohnt sich.
Gerade an den Weihnachtsfeiertagen treffen unterschiedliche Generationen, Erwartungen, Hoffnungen, vielleicht auch alte Verhärtungen aufeinander. Welche typischen Konflikt-Situationen beobachten Sie, wenn Familien sich zu Weihnachten versammeln – und was sind Ihre ersten „Notfall-Tipps“, wenn es unterm Tannenbaum zum Streit kommt?
Alle Jahre wieder kommt es zu gleichen Abläufen von Familien-Weihnachtsfeiern, mit allen schönen Momenten, aber eben auch dem obligatorischen Weihnachtsstreit, was auch immer ihn hervorruft.
Meist liegt die Ursache dafür schon Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte zurück und es gibt die unterschiedlichsten Erinnerungen und Interpretationen über den Auslöser. Durchbrechen Sie diese „Weihnachtstradition“. Wenn Sie es außerhalb der Feiertage nicht geschafft haben, den Konflikt zu lösen, warum wollen Sie es wieder an Weihnachten versuchen? Stellen Sie Regeln auf, wie Sie Weihnachten feiern wollen und vor allem, was Sie nicht an den Feiertagen erleben wollen. Teilen Sie das Ihren Gästen im Vorfeld mit. Vielleicht gelingt es Ihnen ja auch, gemeinsam im Vorfeld über das Fest nachzudenken und gemeinsam zu planen. Das würde enttäuschte Erwartungen und Hoffnungen schon einmal eliminieren. Seien Sie kreativ und haben Sie Spaß an diesem schönen Fest. Werfen Sie all die Traditionen über Bord, die immer wieder zur Reibung führen und ersetzen Sie diese durch solche, die Freude bringen.
Erklären Sie, warum Ihnen das wichtig ist und was der Streit in jedem Jahr mit Ihnen macht. Wenn sich im Vorfeld bereits zeigt, dass Sie mit ihrem Anliegen ein fröhliches und friedvolles Weihnachtsfest zu feiern, auf Widerstand treffen, überdenken Sie Ihre Gästeliste. Vor allem machen Sie alle Gäste zu Hütern der Werte. Besprechen Sie einen Notfallknopf, wenn es doch wieder zu Zänkereien kommen sollte und nehmen Sie alle in die Pflicht. Weihnachten ist das Fest der Familie, da dürfen alle mithelfen. Und wenn es gehen sollte, sprechen Sie ruhig den immer wiederkehrenden Knackpunkt an und vielleicht verabreden Sie sich zu einer Zeit außerhalb der Feiertage, in der Sie gemeinsam diese Auseinandersetzung auflösend führen wollen.
Als Moderatorin und Trusted Advisor arbeiten Sie auch mit Führungspersönlichkeiten. Welche Qualitäten braucht jemand heute, um in Teams oder Organisationen eine konstruktive Streitkultur zu fördern – und welche Verhaltensweisen sind echte „Killer“ für guten Dialog?
Um dieser Frage gerecht zu werden, müsste ich Seiten füllen. Zusammenfassend würde ich sagen: Selbstbewusstsein, Kooperations- und Lösungsfähigkeit und Empathie. Konstruktive „Streitförderer“ sollten souverän agieren können, widerstandsfähig sein und die Kunst des Zuhörens verstehen.
Vor allem aber sollten sie verstehen, welch ein großer Mehrwert in einer gut etablierten Streitkultur liegen kann. Denn gerade in Unternehmen findet man in Auseinandersetzungen ein echtes Potenzial an Innovation, wie sich Strukturen, aber auch Produkte verbessern lassen. Gibt es hier freie Räume, in denen man sich unbedenklich treffen kann, um konstruktive Kritik zu äußern und sich gemeinsam auseinanderzusetzen, bringt dies meist einen enormen Nutzen für das Unternehmen und seine Mitarbeiter und so mancher Streik würde überflüssig werden. Zur „dialogkillenden Verhaltensweise“ würde ich auf Platz eins Egozentrik setzen. Wenn ich des tiefen Glaubens bin, dass sich alles nur um mich dreht und alles nur auf mein Wohlwollen einzahlen sollte, habe ich gar nicht das Bedürfnis, mit dem anderen in echten Kontakt zu kommen. Hier wird nur subjektiv bewertet – es entsteht eine Art der Realitätsverleugnung und das Miteinander bleibt außen vor.
Gab es in Ihrer eigenen Biografie eine Erfahrung, die Ihre Sicht auf Streit besonders geprägt hat – etwas, das Sie auch in Ihre Arbeit einfließen lassen?
Es war nicht der eine Moment, sondern die vielen kleinen, vor allem im Alltag, die mich immer wieder fragen ließen, warum wir uns gegenseitig das Leben so schwer machen. Mein Anliegen ist, dass wir uns besser verstehen, soviel besser verstehen, als wir es jetzt tun. In meinem Podcast frage ich die unterschiedlichsten Menschen: Wie gehen wir eigentlich miteinander um? Wie wollen wir unser Zusammenleben gestalten? Wie unser eigenes? Beides ist untrennbar miteinander verbunden.
Die Art, wie wir miteinander „streiten“ wird mitentscheiden, ob wir offen, fair und mitmenschlich gemeinsam nach Lösungen für unsere Herausforderungen suchen können. Das Engagement der bisher schweigenden Mehrheit wird dabei den Unterschied ausmachen. Und was ich in meinem Podcast gelernt habe ist, dass jeder von uns jeden Tag den Unterschied ausmacht – das holt uns aus der Ohnmacht heraus und bringt uns ins Handeln – und das macht mich zuversichtlich!
„Lasst uns streiten!“ Eine Aufforderung zum Streit?
Wird öffentlich nicht schon genug gestritten, mit schrillen Tönen auf der einen Seite und ängstlichem Schweigen auf der anderen? Mit Schlammschlachten in den sozialen Medien und Sprachlosigkeit in vielen Familien? So kann es nicht weitergehen, sagt Birte Karalus. Stattdessen gilt es, Kontroversen lösungsorientiert auszutragen. Dazu braucht es eine andere Haltung zum Streit – und damit zu unserem Gegenüber.
ISBN: 978-3-424-20286-1





