Dass wir die Gene unserer Vorfahren aus Urzeiten noch immer in uns tragen, beweisen mir meine Kinder täglich aufs Neue. Sie stammen unverkennbar von den Jägern und Sammlern ab, wobei das Sammler-Gen klar dominiert. Sobald Kinder sich selbständig fortbewegen können und der Greifreflex durch den gezielten Pinzettengriff abgelöst wird, klauben sie alles auf, was nicht irgendwo festgenagelt, angeklebt oder angewachsen ist. Bei den Objekten der Begierde junger Sammler dominieren Stöcke, gern auch Steine. Im sehr jungen Alter gaben unsere Kinder die Schätze ungefragt an Mama oder Papa weiter mit einem knappen „halten“. Da ihr Kurzzeitgedächtnis noch nicht sehr ausgeprägt war, fiel es meist nicht auf, wenn wir Stock/ Stein/ Feder/ Kastanie … kurz darauf wieder fallen ließen. Wie im Grimmschen Märchen hinterließen wir auf Spaziergängen so eine Spur, die uns im Notfall zurück nach Hause geführt hätte. Als die Kinder größer wurden, wurden wir die Schätze nicht mehr so schnell los. Mit der schieren Menge an Steinen und Ästen, die unsere Kids Tag für Tag nach Hause trugen, hätte ich mich vermutlich längst mit einem Holz- und Kieshandel selbständig machen können. Stattdessen haben wir einzelne Prachtexemplare aufbewahrt und der Rest durfte im Garten in einem grünen Versteck gehortet werden.
Als die Kinder dann in die Kita und später in die Schule kamen, wurden weiter Schätze gesammelt. Nur landeten diese nicht mehr in den elterlichen Händen, sondern in den Taschen von Hose und Jacke. Mittlerweile hat sich das Repertoire der Kinder beachtlich erweitert. Gesammelt werden nicht mehr nur schnöde Steine, sondern auch Kronkorken, Perlen, Haargummis, Knöpfe, Schneckenhäuser, Murmeln … eben alles, was klein genug ist, um in die Hosentasche zu passen – und was halbwegs begehrenswert erscheint. Allerdings reicht das Begehren nur wenige Stunden. Wenn die Sammler ihre Hosen am Abend ausziehen, haben sie die Schätze darin in der Regel schon wieder vergessen. Und so habe ich das Vergnügen, die Taschen vor dem Füllen der Waschmaschine zu leeren. Dabei fühle ich mich regelmäßig an Harry Potters Freundin erinnert. Hermine besitzt eine zauberhafte Tasche, die nicht größer ist als eine kleine Luis Vuitton, aber in deren Untiefen sich ein halber Hausstand verstauen lässt. So ähnlich ist es mit den Hosentaschen meiner Kinder. Würde ich sie mit Hose auf die Waage stellen, müsste ich ein Kilogramm vom Gewicht abziehen. Manchmal habe ich so viele Steine aus den Hosentaschen befördert, dass ich mich verwundert gefragt habe, wieso die Hosen tagsüber nicht in den Kniekehlen hingen.
Vielleicht sollte ich statt eines Holz- oder Steinhandels lieber ein Kunstprojekt starten. Die gesammelten Schätze jeder Hose werden auf ein A4-Papier drapiert und fotografiert. Nach ein paar Kindern und Jahren ließe sich daraus sicher ein unterhaltsames Bilderbuch gestalten – vielleicht als Wimmelbuch. Im Übrigen könnte ich dort auch die Inhalte meiner eigenen Taschen ausbreiten. Manchmal bin ich selbst überrascht, was sich nach ein paar Tagen dort angesammelt hat: Kaugummis („Mama, ich will den nicht mehr.“), Taschentücher, Haargummis und -spangen, Steine („Papa, halt mal bitte.“) und Kupfermünzen. Erstaunlich oft finden meine Kinder Geld. Das ist für sie aber so wertvoll, dass es auf dem Weg in die Spardose lieber in den sicheren Taschen der Eltern zwischengelagert wird. Offenbar ahnen sie unterbewusst doch, dass die Schätze in den eigenen Hosentaschen früher oder später wieder abhanden kommen. Auch wenn die Zahl der Steine in den Hosentaschen mit zunehmendem Alter langsam abnimmt, haben wir die Jäger- und Sammler-Phase noch nicht überstanden. Jetzt, wo die Kinder Pokémon-Karten, Fillypferde und Supermarkt-Sticker sammeln, sehne ich mich doch manchmal nach ihrer naturnahen und preiswerteren Sammelleidenschaft zurück.
Kolumne von Anett Linke, Redakteurin der lausebande