Viren sind unsere ständigen Begleiter, seit wir Kinder haben – das galt schon vor Corona. Allerdings ging mit diesem Virus erstmals politische Bildung als unverhoffte Nebenwirkung einher. Denn in der Hochphase der Pandemie war unser Wohnzimmerfenster Aussichtsplattform für Demonstrationen, welche unsere Kinder bis dahin nicht kannten. Jeden Montag spazierten unter selbigem nämlich freiheitsliebende Wutbürger entlang. Sie skandierten dabei so laut „Wir wollen keine Diktatur“, dass der wöchentliche Spaziergang unserem Nachwuchs nicht lange verborgen blieb. Die für unsere Stadt vergleichsweise große Menschenmasse, dazu das Blaulicht der begleitenden Polizeiautos und die „Diktatur“-Rufe lösten bei den Kindern eine Mischung aus Furcht und Neugier aus. Während die Jüngste prompt durchs Wohnzimmer lief und rief: „Keine Diktatur! Keine Diktatur!“, fragte die Mittlere: „Mama, was ist eine Diktatur?“
Demokratie-Erziehung beim Abendessen? Schwere Kost. Wir versuchten es trotzdem, erklärten halbwegs kindgerecht den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie, was demonstrieren eigentlich bedeutet und warum Menschen das machen. Wir erklärten ihnen auch, was den Spaziergängern draußen offensichtlich nicht (mehr) geläufig war: Wenn wir in einer Diktatur leben würden, dann dürften sie nicht demonstrieren.
Dass zumindest ein wenig von dem Gespräch am Esstisch hängen geblieben war, konnten wir wenige Tage später feststellen. Die Kinder wollten gern ins Kino. Wir Eltern wiegelten erst mal ab mit einem vagen: „Vielleicht nächste Woche“. Die Kinder verschwanden in ihrem Zimmer. Wir waren überrascht und zufrieden, wie schnell sie sich hatten von ihrem Vorhaben abbringen lassen. Doch keine halbe Stunde später tauchten sie wieder auf. Bewaffnet mit selbst gemalten Plakaten, liefen sie zu dritt durch unseren Flur und skandierten laut: „Wir wollen ins Kino! Wir wollen ins Kino!“
Mittlerweile haben wir einen Familienrat etabliert, quasi gelebte direkte Demokratie. Regelmäßig versammeln sich alle fünf Familienmitglieder (die Meerschweinchen bleiben außen vor) um den Küchentisch und jede und jeder darf seine Wünsche, Sorgen oder Vorschläge anbringen. Dann legen wir gemeinsam Familienregeln fest, an die wir uns alle halten. Ziel ist Einstimmigkeit, jedes Familienmitglied hat Vetorecht. Daher ringen wir so lange um einen Kompromiss, bis alle einverstanden sind. In den ersten Treffen sprachen wir Eltern die Dinge an, die uns besonders störten: dass es abends so lange dauerte, bis die Kinder im Zimmer und im Bett verschwunden waren, dass wir die Hausarbeit gern gerechter aufteilen würden. Die Kinder, für die das alles noch neu war, nahmen die neuen Regeln ohne große Diskussion an. Als wir etwas später Freunde zu Besuch hatten, kam die Rede auf den Familienrat (die vereinbarten Regeln hängen für jeden gut sichtbar am Kühlschrank). Die Kinder wurden also gefragt, was es damit auf sich hätte. Daraufhin meinte unser Großer trocken: „Die Eltern bestimmen, was wir machen müssen.“
Offensichtlich war uns die politische Bildung an dieser Stelle missglückt. Wir als Eltern hatten das ganz anders beabsichtigt und waren auch der Meinung, wir hätten das so kommuniziert. Seitdem fragen wir bei jedem Familienrat jedes Kind: „Gibt es etwas, das dich stört, das du gern ändern würdest?“ Die Vorschläge sind so erwartbar wie amüsant: „Wir dürfen uns immer Süßigkeiten nehmen, wann wir wollen. In der Küche darf nicht mehr gepupst werden. Wir kaufen uns einen Fernseher. Meine Geschwister müssen mich vorher fragen, wenn sie meine Stifte benutzen wollen.“ Da kam dann doch gelegentlich unser Vetorecht zum Einsatz. Immerhin: Eine der schönsten Regeln haben die Kinder angeregt und die setzen wir auch um. Wir nennen sie die 3-K-Regel: Mehr kitzeln, mehr knutschen, mehr kuscheln.
Kolumne von Anett Linke, Redakteurin der lausebande