Zappelsuse & Traumphillip

Datum: Mittwoch, 29. Februar 2012 23:12

 „Die Diskussion versachlichen“

Interview Manfred_Döpfner_KopieInterview mit Prof. Dr. Manfred Döpfner
Univ.-Prof. Dr. sc. hum. Dipl. Psych. Manfred Döpfner; Leitender Psychologe am Zentrum für Neurologie und Psychiatrie der Uniklinik Köln

Wieso setzen Sie sich ausgerechnet mit ADHS so intensiv auseinander?

Ich setze mich nicht nur mit ADHS auseinander, aber ADHS bildet seit mehr als 20 Jahren einen Schwerpunkt unserer Arbeit hier in Köln. Der Grund ist einfach: Die Problematik tritt sehr häufig auf. Wir haben bereits vor über 20 Jahren mit der Forschung an ADHS begonnen, damals haben sich noch relativ wenig Leute darum gekümmert. ADHS ist ein Problemfeld, das sehr stark an der Schnittstelle von Pharmakotherapie und Psychotherapie angesiedelt und von vielfältigen biologischen und psychologischen Ursachen geprägt ist – und das hat uns besonders interessiert.

Wie erklären Sie sich, das trotz weit reichender wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Bevölkerung noch so viel Unwissenheit zu ADHS existiert?
Das ist sicherlich sehr überraschend. Was mich noch mehr überrascht, als die Unwissenheit in der Bevölkerung, sind die intensiven und oft sehr emotional geführten Diskussionen um dieses Thema. Ein Teil der Verunsicherung in der Bevölkerung und bei den Betroffenen kommt dann auch durch sehr emotionalisierte und ideologisierte Berichterstattungen, die selbst in sogenannten seriösen Medien wie „Welt am Sonntag“ oder „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ statt finden.

Leben wir in Deutschland in Sachen ADHS besonders hinterm Mond?
Das glaube ich nicht. Ich arbeite auch sehr intensiv im europäischen Rahmen und erlebe dort ähnliche Situationen. In den USA geht man tendenziell etwas anders mit diesem Thema um. In den südeuropäischen Ländern wie Frankreich hinterfragt man dieses Konzept hingegen noch viel mehr, als es in Deutschland hinterfragt wird.

Wir haben in Brandenburg vergeblich nach einem regionalen Netz gesucht und auch kaum Selbsthilfegruppen entdecken können. Gibt es eine unterschiedliche Sensibilität in den neuen und alten Bundesländern?
Das nehme ich so nicht wahr. Auf der Internetseite www.zentrales-adhs-netz.de sehen Sie, dass auch die Neuen Bundesländer relativ gut vertreten sind.

Sie arbeiten seit über zwei Jahrzehnten an dem Thema ADHS. Welche großen Erfolge können Sie verzeichnen?
Insgesamt haben wir in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten im Bereich der Ursachenforschung zu ADHS und auch in der Therapie deutliche Verbesserungen erreicht. Es gibt zwar noch große Fragezeichen, aber wir können bereits viel besser einschätzen, wie gut einzelne Behandlungsformen wirken. Insbesondere im Bereich der Pharmakologie und der Psychotherapie haben sich sehr wichtige Hilfen entwickelt, die auch wissenschaftlich überprüft wurden.

Gibt es ganz aktuelle Erkenntnisse zum Thema ADHS?
Die Wissenschaft mahlt meist etwas langsamer als z.B. der Journalismus. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich sehr stark verfestigt, dass ADHS über eine deutliche biologische Wurzel verfügt. Wir wissen heute, dass genetische Komponenten den größten Anteil an der Entstehung der Störung ausmachen. Das hatte man vor 20 Jahren noch anders gesehen. In der letzten Zeit wird immer deutlicher, das es bei den Ursachen eine starke Erbe-Umwelt-Interaktion gibt. Die erblichen Komponenten erklären nicht allein oder ausschließlich die Störung, Umweltkomponenten spielen eine ebenso bedeutende Rolle. Dabei kann es sich um das psychosoziale Umfeld handeln, also wie die Kinder aufwachsen. Das können aber auch Probleme in der Schwangerschaft sein. Diese Faktoren scheinen sehr eng zusammen zu hängen, aber vieles wissen wir noch nicht. In der Therapie wird allerdings der gute Kurzzeit-Effekt pharmakologischer Behandlungen, aber auch der psychologischen Behandlung und Verhaltenstherapie immer deutlicher. Auch in der Langzeit-Perspektive wissen wir inzwischen, dass sich einiges verbessert hat.

Sie arbeiten direkt mit betroffenen Familien zusammen. Welche Fehler betroffener aber auch nicht betroffener Familien begegnen Ihnen denn am häufigsten?
Für Eltern ist oft nur schwer nachzuvollziehen, dass bei einem Kind mit ADHS sowohl biologisch körperliche Faktoren als auch psychische oder soziale Faktoren eine Rolle spielen – und dass diese sehr komplex miteinander verbunden sind. Aus diesem Grund sollte eine Therapie das Problem auch aus medizinischer und psychologischer Sicht betrachten. Eltern rutschen oft in typische Erziehungsfehler hinein – nicht weil sie in der Erziehung schlecht sind, sondern weil die Kinder es ihnen auch relativ schwer machen, sie „gut“ zu erziehen. Es ist für Betroffene unendlich schwer, nicht in die Falle des ständigen Ermahnens und Bestrafens der Kinder zu tappen. Darauf kann ein negativer Kreislauf mit vielen negativen Erfahrungen für die Kinder und auch Eltern entstehen. Auf der anderen Seite brauchen die Kinder aber auch sehr klare Strukturen und ein konsequentes Erziehungsverhalten mit positiven Anreizen für das Kind. Das hinzubekommen, ist wirklich sehr schwer. Damit haben nicht nur Eltern, sondern auch Pädagogen ein Problem.

Stichwort Modediagnose ADHS: Was raten sie denn Eltern, die an einer ADHS-Diagnose Zweifel haben?
Es ist wirklich in Gefahr, dass ADHS für alle Kinder mit Leistungs- oder Verhaltensproblemen zur Modediagnose verkommt. Bei ADHS gibt es anders als bei anderen psychischen Störungen wie Ängsten oder Depressionen keine klaren Grenzen zwischen Auffälligkeit und Unauffälligkeit. Ich vergleiche das immer mit Problemen wie Bluthochdruck oder Übergewicht. Das ist eine graduelle Angelegenheit: Man kann mehr oder weniger davon haben. Wenn man ganz viel davon hat, dann ist das eine ernsthafte, bedrohliche Problematik, die die weitere Entwicklung des Kindes beeinträchtigen kann. Es kann aber auch graduelle Abstufungen geben – insofern kann sich eine ADHS-Diagnose auch in einem Grenzbereich bewegen. Es gibt auch Kinder, die nicht die vollen Kriterien für ADHS erfüllen, aber eine erhöhte Impulsivität zeigen und sich vielleicht auch weniger gut konzentrieren können. Auch bei Kindern mit einer leichten und weniger ausgeprägten ADHS-Symptomatik ist es ganz wichtig, mit psychologischen Maßnahmen zu unterstützen. Das können insbesondere Erziehungsmaßnahmen oder gezielte Hilfen in Schule oder in Kindergarten sein. Für solche Maßnahmen ist es eigentlich egal, ob ich die Diagnose vergebe oder nicht.

Gibt es Schätzungen, wie viele der ADHS-Betroffenen tatsächlich diagnostiziert und therapiert werden?
Es gibt Studien, die untersucht haben, wie viele Kinder die Kriterien für eine ADHS erfüllen. Die Zahlen schwanken – in einer großen Untersuchung im Rahmen des Kinder- und Jugendgesundheitsservices, die vom Robert-Koch-Institut durchgeführt wird, lagen die Zahlen für ADHS bei einem Anteil von 5 bis 6% aller Kinder. Bei Kindern im Schulalter und bei Jungen ist der Anteil deutlich höher als bei älteren Kindern oder bei Mädchen. Das ist deutlich mehr als früher, und genau das wird auch in den Medien kritisch gesehen. Aber früher hat man auch nicht genau genug hingeschaut. Es gibt aber auch zwei Fehldiagnosebereiche: Zum einen wird vorhandenes ADHS nicht erkannt und nicht diagnostiziert – und zum anderen wird nicht vorhandene ADHS diagnostiziert. Beide Fehler treten nach wie vor auf. Es gibt weiterhin Kinder, die lange nicht erkannt werden, lange leiden und keine spezifische Hilfe bekommen. Es gibt aber keine Zahl, welcher Fehler nun häufiger vorkommt – ob der „Modediagnosefehler“ oder die Diagnose, die zu spät kommt.

Was sollte sich ihrer Meinung nach in unserer Gesellschaft im Umgang mit ADHS ändern?
Ich würde mir wünschen, dass es uns gelingt, ADHS aus dieser emotionalen und ideologisierten Diskussion herauszubekommen. Ich habe nie verstanden, warum man bei ADHS so intensiv um bestimmte Punkte diskutiert wird, die eigentlich für alle psychischen Störungen zutreffen. Wir haben es bei allen psychischen Störungen mit Fehldiagnosen zu tun, da es fließende Übergänge von Gesundheit und Normalität hin zur Auffälligkeit gibt. Das ist bei Masern oder Mumps sicher anders. Aber nur bei ADHS wird so intensiv diskutiert. Ich würde mir sehr wünschen, dass Medien und Gesellschaft sich ein bisschen mehr an wissenschaftliche Ergebnisse halten und die Diskussion versachlichen. Man kann es trotzdem kritisch hinterfragen – das ist ja ein wesentliches Merkmal von Wissenschaft. Ich wünsche mir auch, dass pädagogische Einrichtungen sich besser auf Kinder mit solchen Problemen einstellen können. Das heißt aber auch, dass wir die Pädagogen entsprechend qualifizieren müssen. Vielleicht ist auch ein bisschen mehr Toleranz gegenüber kindlicher Impulsivität und Sprunghaftigkeit und Spontanität wünschenswert – damit wir nicht gleich alle Regungen in auffällige Kategorien packen müssen.