Sprechzimmer statt Klassenzimmer

Datum: Donnerstag, 29. März 2018 15:33

Familien erzählen: Abgestempelt mit ADHS

Als Simone die Diagnose ADHS* für ihren großen Sohn Patrick bekam, war dieser bereits in der Grundschule. Hinter ihr und der Familie lag eine schwere Zeit. Der Große war von Geburt an „schwierig“, als Säugling schrie er viel, später im Kindergarten und in der Schule war „Zappelphilipp“ noch eine freundliche Umschreibung. Er reagierte aggressiv, wenn er überreizt war, warf Gegenstände um sich, schlug andere Kinder. Schon bald wandten sich Freunde von Simone ab. Sie wollten nicht, dass ihr Kind mit so einem „Rüpel“ befreundet ist. Auch die Erzieher und Lehrer waren mit dem Kind immer wieder überfordert. Fast am schlimmsten aber waren die Reaktionen des Umfelds: Sätze wie „Erziehen Sie doch mal Ihr Kind richtig“, hörte sie häufig. Brachte der Große mal wieder schlechte Noten nach Hause, hieß es: „Der muss einfach mal lernen.“ So einfach ist es aber nicht gewesen. Nach vielen Untersuchungen, Arztgesprächen und einer Kur bekam die Familie endlich die Diagnose: Patrick hat ADHS. Das heißt stark vereinfacht: Aufgrund eines neurologischen Defekts funktioniert die Reizübertragung im Gehirn nicht richtig, es kann einströmende Reize nur unzureichend verarbeiten. Damit wusste die Familie zwar endlich, woran sie war, doch einfacher wurde es nicht. Mit der Diagnose ADHS war Patrick abgestempelt. Das Verständnis für diese Krankheit fehlte schon damals in den 1990er-Jahren und es fehlt bis heute. Das ist auch der Grund, warum wir hier nicht die richtigen Namen der Familie veröffentlichen. Heute sind Patrick und sein jüngerer Bruder Lars erwachsen, leben in der Lausitz, haben beide eine Freundin und einen Beruf. Den wollen sie nicht aufs Spiel setzen. Sie haben gelernt, mit ihrer Krankheit umzugehen.

Doch bis dahin war es ein langer, oft steiniger Weg. Nach der Diagnose ließ Simone auch ihren jüngeren Sohn Lars auf AD(H)S testen. Er war zwar sehr viel ruhiger als sein Bruder, aber oft so verträumt, dass er im Alltag ebenfalls Schwierigkeiten hatte. Auch er bekam die Diagnose AD(H)S, nur in einer anderen Ausprägung. Bei ihm äußerte sich die Krankheit beispielsweise darin, dass er von der Schule nicht nach Hause kam oder Arzttermine verpasste, da er sich durch seine Träumereien regelrecht verlief, Zeit, Weg und Ziel vergaß.

Nach der Diagnose begann für Simone ein Kampf für ihre Söhne, gegen Unverständnis bei Lehrern, auch Ärzten, teilweise sogar in der eigenen Familie. Sie meldete Patrick von der Regelschule ab und an einer Förderschule an, Lars kam in eine Integrationsklasse. Darüber hinaus kümmerte sich Simone, dass die Kinder spezielle Förderungen bekamen, wie Ergotherapie oder eine LRS-Therapie gegen die Lese-Rechtschreib-Schwäche. Durch die späte Diagnose hatte vor allem der Große viele Defizite aufgebaut, die es jetzt mit viel Zeit und Zuwendung abzubauen galt. Simone gründete eine Selbsthilfegruppe, wo sie sich mit anderen betroffenen Eltern austauschen konnte und erstmals auf Verständnis traf. Sie wandte sich ans Bildungsministerium in Potsdam, um auf die Situation von Familien mit AD(H)S-Kindern aufmerksam zu machen. Eine Antwort bekam sie nie. Trotz aller Widrigkeiten, stehen ihre beiden Söhne heute mit beiden Beinen im Leben – darauf ist sie sehr stolz.

*AD(H)S AufmerksamkeitsDefizitStörung mit und ohne (H)yperaktivität