Leere statt Lehre

Datum: Freitag, 30. November 2018 11:46

Voraussetzungen für den Seiteneinstieg
Wer über den Seiteneinstieg Lehrer werden möchte, muss einen Hochschulabschluss besitzen (Master, Magister oder Diplom). Ob das Studienfach anerkannt wird, entscheidet die zuständige Bildungsagentur. Hat man sich erfolgreich beworben, erfolgt zunächst eine dreimonatige Einstiegsqualifizierung, in der die wichtigsten Grundlagen zum Schulalltag und zur Unterrichtsgestaltung vermittelt werden. Sobald man seine Lehrertätigkeit begonnen hat, erfolgt eine berufsbegleitende Qualifizierung. Dauer und Inhalte richten sich nach dem bereits vorliegenden Studienabschluss. Die Weiterqualifizierung nimmt mindestens ein Jahr in Anspruch, in der Regel länger. Für die Qualifizierung müssen die Seiteneinsteiger an ein bis zwei Tagen pro Woche an eine Universität oder ein Studienseminar. Die restlichen drei bzw. vier Tage halten sie Unterricht an ihrer Schule. Wer seine Qualifizierung erfolgreich absolviert hat, wird den grundständig ausgebildeten Lehrern gleichgestellt, hat also beispielsweise unter Umständen auch Anspruch auf Verbeamtung und das gleiche Gehalt wie die Kollegen mit Lehramtsstudium.

Wie wirkt sich die hohe Zahl der Seiteneinsteiger auf die Unterrichtsqualität aus?
Die Frage lässt sich derzeit noch nicht seriös beantworten. Seiteneinsteiger sind in dieser Größenordnung erst seit vergangenem Schuljahr im Einsatz. Dennoch gehen Experten davon aus, dass die aktuelle Situation nicht ohne Folgen für die Schüler bleiben wird.
„Für aussagekräftige Studien ist es noch zu früh,- ich bin mir aber sicher, dass spätestens im nächsten Jahr vor allem die Bundesländer in den nationalen und internationalen Vergleichsstudien einbrechen werden, die besonders stark unter dem Lehrermangel leiden und viele Quereinsteiger eingestellt haben“, erklärt Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Lehrerverbandes auf Nachfrage. Seiteneinsteiger an sich seien kein Problem. Das Problem liege viel mehr in ihrer großen Zahl: „Wenn allerdings Seiteneinsteiger wie in Berlin die große Mehrheit der Neueinstellungen an Grundschulen ausmachen, nur einen einwöchigen Crashkurs erhalten und dann sofort fast Vollzeit unterrichten müssen, dann befürchte ich tatsächlich massive Auswirkungen auf die Unterrichtsqualität sowie den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler.“
Auch Jens Risse von der GEW Sachsen befürchtet, dass die Leistungen der Schüler zurückgehen werden. Bereits jetzt nehme die Zahl der Ausfallstunden zu und zum nächsten Jahr sei bereits die Kürzung der Stundentafel angekündigt. Sein brandenburgischer Kollege Günther Fuchs geht ebenfalls davon aus, dass sich die aktuelle Situation auf die Qualität des Unterrichts auswirken wird. „Da sehe ich in der Tat die Gefahr, dass die Vermittlung grundlegender Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen, nicht mehr in zufriedenstellender Qualität gewährleistet werden kann.“ Darauf würden bereits erste Ergebnisse aus den vergangenen Schuljahren hindeuten, in denen es noch gar nicht die große Masse an Seiteneinsteigern gab, so wie das jetzt der Fall ist. Zugleich warnt er aber davor, die Schuld an der aktuellen Situation bei den Seiteneinsteigern zu suchen: „Verantwortung trägt die Politik mit ihrer katastrophalen Personalplanung. Seiteneinsteiger sind nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung.“

Die Landespolitik sieht das naturgemäß anders. Auf lausebande-Nachfrage wiesen sowohl das Bildungsministerium in Potsdam als auch das Kultusministerium in Dresden einen Zusammenhang zwischen Seiteneinsteigern und Unterrichtsqualität zurück. „Die Leistung des Sächsischen Schulsystems ist Dank des großen Engagements der Lehrer und Seiteneinsteiger konstant – zu diesem Ergebnis kommen auch die verschiedenen Bildungsvergleiche, bei denen Sachsen immer gut abschneidet und sogar Spitzenpositionen einnimmt, z. B. Bildungsmonitor: 13 mal in Folge Platz 1 für Sachsen – 2018 sogar verbessert im Vergleich zu 2017“, heißt es von der sächsischen Seite. Brandenburg vermeldet kurz und knapp: „Es gibt bislang keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Einsatz von Seiteneinsteiger/innen auf die Schülerleistungen auswirkt.“
Die letzte bundesweite Erhebung der Mathe- und Deutsch-Kompetenzen erfolgte 2016 im Rahmen des IQB-Bildungstrends. Dieser untersucht alle fünf Jahre bei Viertklässlern an Grund- und Förderschulen, wie gut sie rechnen, schreiben, lesen und verstehen können. Die jüngsten Ergebnisse von 2016 zeigten einen deutlichen Leistungsabfall der Schüler, bedingt v.a. durch die wachsende Heterogenität der Schüler. So erreichte gut jeder fünfte Schüler die Mindeststandards bei Rechtschreibung nicht. In Mathematik schafften 15 Prozent der Schüler die Mindestanforderungen nicht. Sachsens Schüler schneiden in fast allen Bereichen relativ gut ab, Brandenburg findet sich im unteren Mittelfeld wieder.
Unbestritten ist, dass die große Zahl an Seiteneinsteigern zu einer hohen Belastung an den betroffenen Schulen führt: Die berufsbegleitende Qualifizierung erfordert einen hohen organisatorischen Aufwand. Die neuen Kollegen stehen noch nicht voll zur Verfügung, die erfahrenen Kollegen müssen sie zudem als Mentoren an die Hand nehmen, was wiederum eine Mehrbelastung für sie zur Folge hat. Eine für alle Beteiligten unbefriedigende Situation.

Qualifizierung der Seiteneinsteiger
Einig sind sich Gewerkschaften, Lehrervertreter, Elternvertreter, Schulen, Bildungsforscher und Ministerien zumindest in einem Punkt: Die neuen Kollegen müssen gut qualifiziert werden. „Die erste und einzige Bedingung, die der Landeselternrat an das Quereinsteiger*innen-Programm stellt, ist, dass die Qualität des Unterrichtes erhalten bleibt – sowohl pädagogisch als auch inhaltlich! Am Ende soll den Schüler*innen ermöglicht werden, den angestrebten Abschluss zu erreichen“, erwartet die Vorsitzende des Landeselternrates Brandenburg, Ulrike Schwentner.
Über das nötige Fachwissen verfügen die meisten Seiteneinsteiger bereits. Was ihnen fehlt, ist das Rüstzeug für die Lehr-Tätigkeit: pädagogische und didaktische Kompetenzen. Wer schon mal einen Schulanfänger begleitet hat, der weiß, dass es viel Geduld und vor allem pädagogische Kompetenz braucht, um einem Kind Lesen und Rechnen beizubringen. Wer ein Germanistikstudium erfolgreich abgeschlossen hat, weiß längst nicht, wie er Erstklässlern das Schreiben beibringen kann.
Das Problem: Teilweise war der Lehrermangel so akut, dass Seiteneinsteiger ohne jede Vorqualifizierung Unterricht geben durften. Die notwendige Qualifizierung erfolgte parallel zum Schulalltag. In Sachsen ist es mittlerweile so, dass Seiteneinsteiger zunächst eine dreimonatige Qualifizierungsphase durchlaufen müssen, bevor sie vor einer Klasse stehen. In Brandenburg gilt diese Regelung derzeit noch nicht für alle Seiteneinsteiger. Werden sie nicht zu Beginn eines Schulhalbjahres eingestellt, sondern unterjährig, erfolgt die Qualifizierung ausschließlich berufsbegleitend.
Genau das sieht Günther Fuchs kritisch: „In der Praxis ist es noch oft so, dass die Seiteneinsteiger erst einmal anfangen zu unterrichten und dann berufsbegleitend neben ihrer Lehrtätigkeit qualifiziert werden. Das ist ein untragbarer Zustand. Und dort, wo wir besonders Fachleute bräuchten, nämlich an den Grundschulen und Oberschulen, haben wir leider besonders viele Seiteneinsteiger.“
Am Ende gilt für die Seiteneinsteiger das Gleiche wie für die klassisch ausgebildeten Lehrer: Es gibt unter ihnen solche, die haben jetzt genau den richtigen Beruf gefunden – sie sind eine Bereicherung für Schüler und Kollegen. Und es gibt jene, die ihren Beruf offenbar verfehlt haben. Sowohl der Landeselternrat als auch das Bildungsministerium in Brandenburg erklärten auf lausebande-Nachfrage, dass bisher die positiven Erfahrungen überwiegen. Ulrike Schwentner verwies beispielweise darauf, dass einige der Seiteneinsteiger bereits den Lehrerpreis des Landes gewonnen haben: „Es kommt hier eben noch mehr auf das persönliche Engagement des Einzelnen an.“

Schweinezyklus: Wenn auf den Lehrermangel ein Lehrerüberangebot folgt

Tatsächlich ist die genaue Planung des künftigen Lehrerbedarfs eine Herausforderung: Bekannt sind die Geburten und damit die künftigen Einschulungen, ebenso die Altersstruktur der Lehrer. Es gibt aber auch viele unsichere Faktoren: Wie wird sich die Geburtenzahl weiterentwickeln? Wie viele Menschen wandern aus einer Region ab, wie viele Menschen kommen zurück? Wie viele Lehrer gehen vorzeitig in den Ruhestand? Wie viele Lehramtsstudenten beenden tatsächlich ihr Studium und werden dann als Lehrer tätig? Und dann gibt es noch die gänzlich unvorhersehbaren Ereignisse, wie beispielsweise der jüngste Zustrom von Flüchtlingen. Unter ihnen waren viele Familien mit Kindern in schulpflichtigem Alter, die den Lehrermangel nochmals verschärft haben. Zu den demografischen Faktoren kommen noch bildungspolitische Entscheidungen. In Brandenburg waren das beispielsweise die Absenkung der Unterrichtsverpflichtung für Lehrkräfte und der Mehrbedarf für die Umsetzung des Konzepts ‚Gemeinsames Lernen in der Schule‘.
Zu diesen ohnehin schon schwer planbaren Zahlen kommt die Angst der Politik vor dem sogenannten Schweinezyklus. Der besagt, dass auf einen Lehrermangel meist ein Lehrerüberangebot folgt. Und auch das sächsische Kultusministerium verweist darauf: „Anfang der 1990er-Jahre hatten wir die umgekehrte Situation: Zu viele Lehrer für zu wenige Schüler. Aufgrund dieser Situation wurde zwischen den Gewerkschaften und der Staatsregierung ein Kompromiss geschlossen: Kein Lehrer wird gekündigt, dafür wurden Teilzeitverträge und so gut wie keine Neueinstellungen beschlossen. Daraus resultierte eine ungesunde Altersstruktur im Lehrerzimmer – weswegen jetzt der Generationswechsel große Lücken reißt.“
Ein weiteres Beispiel: Wenn wie derzeit der Lehrermangel an Grundschulen ein großes Thema ist, fangen sehr viele Abiturienten dieses Lehramtsstudium an. Gleichzeitig gehen die Anfängerzahlen für ein Lehramtsstudium Gymnasium zurück, da dort derzeit eher ein Überangebot an Lehrern herrscht. In fünf bis sieben Jahren werden dann sehr viele Grundschullehrer mit dem Studium fertig sein. Dann aber sind die geburtenstarken Jahrgänge durch die Grundschule durch. An den Gymnasien wiederum wird dann ein erhöhter Lehrerbedarf bestehen – bei zu wenig Absolventen. Was kann man nun dagegen tun? Lehrerverbandspräsident Meidinger rät: „Ich plädiere dafür, in Zeiten eines guten Lehrerangebots über Bedarf einzustellen, um vorzusorgen für die darauffolgenden Mangelzeiten. Durch solche Maßnahmen würde man auch der ungleichmäßigen Verteilung der Alterskohorten entgegenwirken. Sinnvolle pädagogische Aufgaben für diese Zusatzeinstellungen gibt es genügend.“