"Pink Vader"

Datum: Montag, 03. Dezember 2012 08:10


Ich war ein typischer Junge
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Dr. Harald Tegtmeyer-Metzdorf ist Kinder- und Jugendarzt sowie Diplompsychologe, Psychotherapeut und Kinderneurologe. Außerdem ist er Ausschuss-Sprecher für Psychosomatik und Psychotherapie im Berufsverband Kinder- und Jugendärzte (BVKJ).

Guten Tag Herr Tegtmeyer-Metzdorf. Waren Sie ein typischer Junge?
Ich denke schon, ja.


Wie hat sich das geäußert?
Ich habe gerne mit Autos gespielt. War lieber mit Jungs, als mit Mädchen zusammen. Ich bin am Rande von Hannover aufgewachsen, dort konnten wir draußen in der Natur rumtoben. Wir haben wild gespielt, sind auf Bäume geklettert und haben zum Teil ziemlich waghalsige Sachen gemacht. In diesen Sachen war ich ein „richtiger“ Junge. Was nicht ins Bild passte, war meine eher defensive Art. Jungen wird ja ein gewisses Aggressionspotenzial nachgesagt.


Wo kommt die Einteilung „typisch Junge – typisch Mädchen“, die in den Köpfen existiert her?
Was in den Köpfen der Menschen passiert, reflektiert die Realität. Wir leben alle in entsprechenden Rollen. Diese haben einerseits biologische, genetische Wurzeln. Dabei handelt es sich um ein spezielles Gen im Y-Chromosom, das diese Voraussetzungen determiniert. Dadurch entwickelt sich die hormonelle Situation bei Jungen und Mädchen unterschiedlich. Das sind Determinanten für eher expansives, sich motorisch ausdrückendes Verhalten bei den Jungen und ein introvertierteres bei den Mädchen. Der andere Faktor sind die Erwartungen, die in Krabbelgruppen, Schulen, Familie, Verwandtschaft, etc. an das Kind herangetragen werden. Erwachsene nehmen Jungen und Mädchen anders wahr.


Inwiefern nehmen Erwachsene Kinder unterschiedlich wahr?
Es gibt ein Experiment, bei dem Erwachsenen Mädchen und Buben vorgezeigt wurden, die alle das gleiche Gewicht hatten. Trotzdem alle gleich schwer waren, meinte die Mehrzahl der Erwachsenen, dass die Jungen schwerer wären und die Mädchen im Gegenteil viel zarter. Diese Erwartungen und Wahrnehmungen prägen Kinder in der Entwicklung ihres Rollenverhaltens. Das fängt bei den Eltern an und geht in den Betreuungseinrichtungen weiter.


Wie entwickelt sich dieses Rollenverhalten unter Kindern?
Zunächst suchen Kinder den Kontakt zum eigenen Geschlecht. Das spielt mit etwa einem Jahr noch keine Rolle, ist ab dem dritten Lebensjahr aber zu beobachten. Dieses Verhalten ist mit dem Ende des Grundschulalters ausgeformt – Jungen sind gerne mit Jungen zusammen und Mädchen lieber mit Mädchen. Dort wird dieses Verhalten gepflegt: Man orientiert sich aneinander, identifiziert sich miteinander. Aber es kommt auch zu Rivalitäten, wobei diese bei Mädchen subtiler ausfallen. Jungen raufen sich eher, während Mädchen diese Rivalitäten öfter verbal austragen.


Angenommen ein Sohn möchte kein Fußball spielen und ein Mädchen partout kein Kleid tragen – müssen sich Eltern dann über die Entwicklung ihres Kindes Gedanken machen?
Homosexuelle Orientierungen zeichnen sich retrospektiv betrachtet häufig bereits in der Kindheit ab. Dabei kommt es natürlich darauf an, wie ausgeprägt das jeweilige Verhalten ist. Es ist normal, dass phasenweise andere Rollen ausprobiert werden. Wenn die Rolle des anderen Geschlechts sehr rigoros verfolgt wird, kann das darauf hinweisen, dass sich eine andere Orientierung herausbildet. Das sollte in unserer heutigen Gesellschaft aber akzeptiert werden. Je nach Umfeld, kann eine homosexuelle Orientierung für die Beteiligten aber problematisch sein.


Sie sagen, dass ein absolutes Verfolgen der anderen Rolle ein Hinweis auf die sexuelle Orientierung sein kann. Doch was ist, wenn ein Kind eine geschlechtsuntypische Sportart für sich entdeckt und diese dauerhaft, absolut, betreiben möchte?
Betrachtet man das Beispiel Frauenfußball, so kann man feststellen, dass dort Verknüpfungen und Vorurteile nicht mehr so stark vertreten sind, wie früher. Das hängt auch mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammen. Rollenklischees verändern sich und brechen auf. Hobbys, Sportarten und Berufe sind nicht auf ewig für das eine oder andere Geschlecht festgelegt. Jungs, die zum Ballettunterricht kommen, befinden sich aber heutzutage in einer sehr exponierten Position. Einfach, weil dort wenig andere Jungen sind. Solche Sachverhalte muss man differenziert betrachten. Will ein Junge Ballett tanzen, kann das ganz einfach an einem Interesse an künstlerisch gestalteter Bewegung liegen. Es kann genauso gut sein, dass sich der Junge stärker mit der weiblichen Rolle identifiziert.


Auch wenn es anders sein sollte, bringt das Thema Homosexualität auch heute noch Probleme mit sich. Wie können Eltern sich verhalten?
Sollten Eltern sich sorgen, sollten sie diesen Sachverhalt nicht verdrängen. Sie sollten sich Gedanken machen, über ihre Sorgen reden und überlegen, warum sie beunruhigt sind. Der Umgang mit dem Kind sollte unkompliziert und offen sein und nicht in subtiler, vieldeutiger Art seinen Ausdruck finden. Egal welche sexuelle Orientierung vorliegt, dass kann und darf an der Liebe zum Kind nichts ändern. Das ist für Eltern natürlich eine Herausforderung. Die meisten sind selbst heterosexuell orientiert – mit der Homosexualität ihres Kindes wird das eigene Konzept in Frage gestellt. Eltern sehen sich einer erheblichen Herausforderung und Provokation in einer solchen Situation gegenüber. Aber die Gesellschaft ist offener geworden und man kann besser darüber sprechen, zumindest im städtischen Rahmen.


Ist es möglich sein Kind geschlechtsneutral zu erziehen?
Ich denke nicht. Dazu ist das Rollenverhalten viel zu sehr in uns verankert. Unser gesellschaftliches Leben ist auch in diesen Rollen organisiert. Es gibt zwar unterschiedliche Ausprägungen dabei, aber gänzlich geschlechtsneutral ist nicht möglich. Das sieht man auch an dem anfangs genannten Experiment. Man sollte seinen Kindern den Freiraum geben, sich auszuprobieren und sie nicht in vorgefertigte Muster pressen. Damit es Frauen in wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Führungsetagen geben kann, muss in der Sozialisation eines Mädchens dafür gesorgt werden, dass es auchvrobereitet ist für solch eine Aufgabe.


Was raten Sie Eltern im Zusammenhang von „typisch Junge – typisch Mädchen“?
Eltern sollten nicht versuchen ihre Kinder in eine Rolle zu drängen. Ein offener und toleranter Umgang ist wichtig. Kinder sollten auch in andere Rollen reinschnuppern dürfen.


Vielen Dank für das Gespräch.