Zwei Engel für Charlie

Datum: Mittwoch, 29. Januar 2014 12:43


Malen oder Schreiben
Die Fronten im Streit um die richtige Schreibschrift sind verhärtet. Die relativ geringe Zahl seiner Unterstützer macht der Grundschulverband durch eine engagierte Lobbyarbeit wett. Die Mehrheit der Lehrer und Wissenschaftler scheint den traditionellen Ausgangsschriften verbunden. Inzwischen organisieren sich auch die Gegner der Grundschrift immer besser. So hat die Aktion „Rettet die Schreibschrift“, eine Initiative des Vereins für Sprachpflege e.V., nach eigenen Angaben bereits 13.500 Unterschriften für den Erhalt der Schreibschrift gesammelt. Ob die Grundschrift überhaupt eine Schreibschrift ist, darüber streiten sich Befürworter und Gegner verbissen. Für die Mitglieder des Grundschulverbandes gehört die Grundschrift zu den Schreibschriften. Für sie ist es eine „irrige“ Auffassung, dass eine Schreibschrift sich dadurch auszeichnet, dass alle Buchstaben miteinander verbunden werden. Schon viele Dritt- und die meisten Viertklässler, erst recht alle Erwachsenen würden dies bei ihrer eigenen Schrift auch nicht mehr tun. Dennoch seien solche Schriften Schreibschriften. In der Tat heben Kinder nach zwei, drei, höchstens vier sichtbar verbundenen Buchstaben wie Erwachsene häufig kurz den Stift vom Blatt. Auch im Wort, wenn auch nur für Millisekunden. So entspannen sie die Muskulatur und vermeiden unökonomische Hin-und-Her-Bewegungen auf dem Papier. Ganz anders sehen dies die Befürworter der Schreibschrift. Demnach ist die Grundschrift keine Schreibschrift. Ihr Hauptargument: Druckbuchstaben werden nicht geschrieben, sondern gezeichnet, oder „gemalt“. Weil sie aus einzelnen Strichen zusammengefügt werden, muss der Stift immer wieder ab- und aufgesetzt werden. Schnelle, fließende Schreibbewegungen könnten so nicht entstehen. Dem Grundschulverband werfen die Befürworter der Schreibschrift populistische Methoden vor. Die Grundschrift sei weniger eine Schreibschrift als vielmehr eine Schrift zum Lesen lernen. Auch sehen die Befürworter der Schreibschrift die Gefahr, dass die Schreibschrift später wie eine neue Schrift gelernt werden muss, wenn die Schreibneulinge sich die erste Schrift so aneignen, wie es der Grundschulverband will.

 

Kritzel & quer durchs Land
Da Bildungspolitik Ländersache ist, schreiben die Schüler von Hamburg bis München und von Köln bis Dresden unterschiedlich. Die Grundschrift wird derzeit in verschiedenen Bundesländern erprobt. In Hamburg steht es den Grundschulen seit dem Schuljahr 2011/12 frei, ob sie die Schreibschrift oder die Grundschrift unterrichten. In anderen Bundesländern wird dieses Modell derzeit an einzelnen Schulen erprobt. Noch ist die Schulausgangsschrift die verbindliche Erstschreibweise in Sachsen. In Thüringen hängt es vom jeweiligen Lehrer ab, ob die Kinder Schreibschrift lernen. Der Lehrplan schreibt nur die Druckschrift vor. In Brandenburg kann zwischen der Schulausgangsschrift und der vereinfachten Ausgangsschrift gewählt werden. Es gibt aber auch hier Lehrer und Klassen, in denen bereits die Grundschrift vermittelt wird. Besonders problematisch kann es sein, wenn an ein und derselben Schule unter den Lehrern keine Einigkeit besteht. So kann es durchaus vorkommen, dass eine Klasse die Schreibschrift lernt, während die Parallelklasse der gleichen Klassenstufe mit Druckbuchstaben hantiert. Dies geht zu Lasten der Kinder, die beim Lehrerwechsel oder beim Schulwechsel dann unter Umständen die Schreibschrift nachholen müssen und schulisch in Rückstand geraten können. Unser Tipp: Eltern sollten sich bereits bei der Schulwahl gründlich informieren, wie an der Schule und unter den Lehrern mit dem Erlernen der Schrift umgegangen wird und ob wenigstens an der Schule ein einheitliches Konzept zu Grunde liegt. Geht Ihr Kind in eine höhere Klassenstufe, sollten Sie Ihr Kind beim Schreiben lernen begleiten und bei Ungewissheit das Gespräch mit Lehrern oder Schulleitung suchen.
Da die Grundschrift zum ersten Mal im Mai 2010 veröffentlicht wurde, kann es noch keine Erfahrungen in weiterführenden Schulen geben. Es gibt vereinzelte Erfahrungen an Sekundarschulen mit Kindern, die in der Grundschule ausschließlich handgeschriebene Druckschrift verwendet haben. Nach Angaben des Grundschulverbandes sind diese Erfahrungen positiv zu bewerten. Die Schriften seien leserlicher als viele andere, die Kinder schrieben genau so schnell wie die anderen Kinder. Allerdings gibt es hierzu keine neutralen Untersuchungen.


Stirbt die Schreibschrift aus?
Es gibt noch wenig wissenschaftliche Untersuchungen zur Tauglichkeit der unterschiedlichen Handschriften. Oft sind diese dann auch noch sehr ideologisch geprägt. So sei der große Vorteil der Grundschrift die Tatsache, dass sie in unsere Zeit passt. Der Computer gehört in Kindergärten, Grundschulen und so manchem Kinderzimmer längst zum nicht mehr wegzudenkenden Inventar. Kinder bedienen ihre Smartphones nicht selten sicherer als ihre Eltern. Tastaturen haben das Schreiben von Hand im Alltag vieler Menschen auf Nischen wie Einkaufszettel oder Postkarten verdrängt, für Bewerbungen werden kaum noch handschriftliche Lebensläufe verlangt und selbst offizielle Anschreiben kann man neuerdings per E-Postbrief komplett papier- und stiftfrei versenden. Neben dem ohne Notar nur handschriftlich rechtsgültigen Testament bleiben eigentlich nur noch Prüfungen an Schule und Universität als letzte Domänen der Handschrift – vorerst. Auch fast alles, was Kinder lesen, ist in Druckbuchstaben geschrieben. Einige Zeitungen haben daher bereits das Ende der Schreibschrift ausgerufen. So gesehen könnte die Grundschrift eine neue evolutionäre Stufe in der Jahrhunderte langen Geschichte der Schreibschrift einläuten. Dafür spricht auch, dass Kinder in der Schule eine Schreibschrift lernen, die sie später im Beruf nicht mehr brauchen. Die Befürworter der Grundschrift sehen allerdings kein Aussterben der Schreibschrift, da für sie die Grundschrift auch eine Schreibschrift ist. Sie sei mit zunehmender Schreibübung geläufig schreibbar und könne bei weiterem Gebrauch zur individuellen Handschrift weiterentwickelt werden.