Kinder brauchen Natur

Datum: Montag, 03. April 2017 11:26

Wer kennt das folgende Beispiel nicht zu gut aus dem eigenen, schnelllebigen Alltag mit Kindern: Da bleibt das Kind stehen, um eine Ameise zu sehen, die eine große Last zum Ameisenhaufen schleppt. Ungeduldig wird das Kind zum Weitergehen aufgefordert: „Jetzt komm‘ schon. Los geh‘ weiter, was siehst du denn da schon wieder? Als wenn du noch nie eine Ameise gesehen hättest!“ (Wir) Erwachsenen sind laut Ingeborg Becker die größten „Verhinderer“ solcher Wahrnehmungen. Dabei lieben Kinder die Natur und brauchen sie auch. Durch den Umgang in und mit der Natur öffnen sich die Sinne und schult sich der Verstand. Kein Fernsehfilm könnte das ersetzen, was ein Kind etwa beim Klettern erlebt: Augen, Hände und Füße müssen gut kooperieren, um sicheren Tritt zu fassen an der Rinde des Baumstamms, ein Ausrutschen verwandelt Übermut in Vorsicht, das Einschätzen der Tragfähigkeit eines Astes lehrt planendes Handeln. Seine körperlichen Grenzen erfährt das Kind hier ebenso wie das überwältigende Gefühl, ein Ziel erreichen zu können. All diese Erfahrungen nisten sich ein in der Psyche des Kindes, formen seine Persönlichkeit (vgl. Elke Leger). Die Defizite bei den Kindern entstehen durch eine künstliche Welt und mit Spielzeug vollgestopfte Kinderzimmer. Experten beobachten seit Jahren die zunehmenden Defizite der Kinder: Sie sind ungelenkig und übergewichtig, und Erzieherinnen und Lehrer klagen über wachsenden Egoismus ihrer Schützlinge. Wie aber soll ein Kind seinen Bewegungsdrang ausleben, wenn seine Umgebung fürs Stillsitzen gemacht ist, im Auto, vor dem Fernseher, in der Wohnung? Saskia Gerhard (DIE ZEIT Nr. 34/2015, 20. August 2015) schreibt: „In der Natur finden Kinder mehr als nur Freiheit. Sie ist Klassenzimmer und Entwicklungsraum.“ Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster sagt sogar: „Natur ist für Kinder so essenziell wie Nahrung.“ Weiterhin betont Renz Polster: „Wer über kindliche Entwicklung redet, muss auch über Natur reden: Wie die Kleinen groß werden. Wie sie widerstandsfähig werden. Wie sie ihre Kompetenzen für ein erfolgreiches Leben ausbilden.“

Alexander Mitscherlich, Psychoanalytiker und einer der Wegbereiter der psychosomatischen Medizin in Deutschland, drückte es so aus: „Der junge Mensch braucht seinesgleichen - nämlich Tiere, überhaupt Elementares: Wasser, Dreck, Gebüsche, Spielraum. Man kann ihn auch ohne dies alles aufwachsen lassen, mit Stofftieren, Teppichen, auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es, doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nicht mehr erlernt.“ Wir Erwachsene sollten Kindern die Möglichkeit geben, diese Erfahrungen machen zu dürfen und nicht jeden ihrer Schritte angstvoll zu beobachten oder gar zu unterbinden. Eher sollten Erwachsene die Kinder darin bestärken, auf Bäume zu klettern und ihnen das Gefühl vermitteln, die Eltern sind als Beobachter dabei und greifen bei Gefahr ein.

Das Konzept von Waldkindergärten bietet Kindern hier eine Möglichkeit, sehr früh einen engen Bezug zur Natur aufbauen zu können. Diese Begegnungen mit der Natur fördern nicht nur die Sinne, sondern auch das ökologische Denken unserer Kinder. Der Ursprung der Waldkindergärten ist in Dänemark zu finden. Mitte der 1950er Jahre wurde in Sölleröd von Ella Flatau, die täglich mit ihren Kindern in den Wald ging, der erste Waldkindergarten gegründet. Als 1993 in Flensburg der erste staatlich anerkannte und nach dänischem Modell gegründete Waldkindergarten durch eine breite Öffentlichkeitsarbeit bekannt wurde, zündete die Idee auch in Deutschland. Ca. 250 Waldkindergärten gibt es momentan in Deutschland. Bernd Neumeister schreibt: „Der Wald als Spielraum hält für die Kinder vielfältige Formen, Farben und Phänomene bereit, die zahlreiche Anreize für die Phantasie geben. Die Sinne des Kindes – Sehen, Fühlen, Hören, Riechen und Schmecken – sind im Wald ständig gefordert.“ Die Kinder können sich dort frei bewegen und vielfältige Raumerfahrungen machen. Sie lernen so ihre Möglichkeiten, aber auch die Grenzen ihrer Bewegungsfähigkeiten kennen. Auch bietet der größere Bewegungsraum im Wald gegenüber der Raumbegrenzung im Kindergarten den Vorteil, dass besser Aggressionen abgebaut werden können. Man kann sich besser aus dem Weg gehen und es entstehen weniger Reibungen. Auch die Lautstärke der Kinder wird für alle erträglicher. Viele Kindergärten greifen den Naturgedanken der Waldkindergärten bereits auf und bieten alternativ regelmäßig einen Waldtag in der Woche oder Projekte im Wald an. Gleiches gilt natürlich auch für Wiesen, Felder und Brauchland. In der „Wildnis“ spielen die Kinder anders. Weber weiß: „Zwischen Bäumen und Steinen regiert kein Erwachsener“. Hier bestimmen die Kinder selbst und treten als eigene Akteure auf, mit der Natur als ein faires Gegenüber.

Was Erwachsene auch immer mit den Kindern in der Natur beobachten und zu welchen Spaziergängen Kinder eingeladen werden, es gilt hierbei immer, dass Kinder
• Zeit brauchen,
• Freiraum für eigene Entdeckungen benötigen und
• ihre Interessenpunkte selbst auswählen sollten.

Erwachsene sollten sich auf die Ebene der Kinder begeben, denn dann können sie selber vielleicht ähnliche Beobachtungen und Entdeckungen machen wie Kinder – ein Schritt zum Sehen mit Kinderaugen. Lassen SIE sich doch von den Kindern zeigen, was sie sehen. Lassen SIE sich in Staunen versetzen, und berichten SIE über eigene Beobachtung erst, nachdem die Kinder berichtet haben. Kinder sehen andere Dinge, sehen mit anderen Augen, stellen andere Zusammenhänge her, werten ihre Wahrnehmung nach anderen Gesichtspunkten, wenden sich mehr dem Kleinen, dem Detail zu und eröffnen gerade uns Erwachsenen (neue) längst vergessene Blickwinkel (vgl. Ingeborg Becker).

Für Eltern:
Die Arbeit läuft nicht davon, während du dem Kind den Regenbogen zeigst, aber der Regenbogen wartet nicht, bis du mit deiner Arbeit fertig bist.
Unbekannt


Eine kleine Auswahl an Literaturtipps zum Weiterlesen:
Aktion Das Sichere Haus: Spiele von gestern für Kinder von heute. Spiele für drinnen/Spiele für draußen, Deutsches Kuratorium für Sicherheit in Heim und Freizweit e. V. (DHS)

Blessing Karin, Silvia Langer, & Fladt Traude: Natur entdecken mit Kindern, Ulmer-Verlag, 2008

Gerhard, Saskia: Wald- und Wiesenpädagogik in: DIE ZEIT Nr. 34/2015, 20. August 2015

Leger, Elke: Raus in die Natur. Warum Kinder die Natur brauchen. In: Kizz. Das Elternmagazin für die Kitazeit

Mit Kindern die Natur entdecken. Aus: Ingeborg Becker-Textor: Mit Kinderaugen sehen. Wahrnehmungserziehung im Kindergarten. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1992, S. 73-96 (leicht bearbeitete Fassung), Ingeborg Becker-Textor

Neumeister, Bern: Der Waldkindergarten, Die Begegnung mit der Natur fördern

Renz-Polster, Herbert & Gerhard Hüther: Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das Kindliche. Beltz Verlag, 2013

Startkapital Natur: Wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert Taschenbuch – 6. November 2014 von FORUM BILDUNG NATUR (Herausgeber), Andreas Raith & Armin Lude

Weber, Andreas: Das Recht der Kinder auf Wildnis; Freiheit und Natur. Zurück auf die Bäume! In: GEO. Die Welt mit anderen Augen sehen, August 2010

Weber, Andreas: Mehr Matsch!: Kinder brauchen Natur, Ullstein 2011


www.netzwerk-gesunde-kinder.de