Mit Hand, Kopf und Herz

Datum: Freitag, 07. September 2018 14:02

Foto: fototourismus für DIPF

Keiner möchte der klassische Lehrer mit Zeigestock sein

Warum Anspruch und Wirklichkeit von künftigen Lehrern oft weit auseinander liegen und warum gute Schule sowohl lehrergesteuerten Fachunterricht als auch ganzheitliche Konzepte braucht, erklärt Bildungsforscher Prof. Dr. Eckhard Klieme im Interview. Er leitet die Abteilung „Bildungsqualität und Evaluation“ am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt a.M.

Was sagt die Wissenschaft: Lernen Schüler besser mit ganzheitlichen Konzepten als im klassischen Frontalunterricht?

Eine klare Erkenntnis der Bildungsforschung der letzten Jahre ist: Je schwächer die Lernvoraussetzungen sind, desto mehr Führung brauchen die Schüler beim Lernen. Das heißt: Vor allem schwächere Schüler profitieren nicht von offenen Unterrichtsformen. Reformpädagogische Ansätze können sie überfordern, wenn sich die Lehrkraft dabei stark zurücknimmt, wie es häufig propagiert wird. Während Schüler mit besseren Lernvoraussetzungen in beiden Konzepten gleichermaßen engagiert sind, ziehen sich schwächere Schüler zurück, arbeiteten weniger mit. Leider ist diese Erkenntnis noch nicht in der Praxis angekommen. Ich halte es für fatal, dass in Deutschland verstärkt offene Unterrichtsformen für heterogene, schwierige Klassen mit Schülern mit Lernschwierigkeiten empfohlen werden. Gerade diese Schüler brauchen einen gut vorbereiteten, strukturierten Unterricht. Das heißt nicht: Frontalunterricht, das können auch andere Unterrichtsformen sein, solange sie klar strukturiert und vorbereitet sind.

Reformpädagogen üben immer wieder Kritik am Frontalunterricht. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

Ja sicher, wenn damit ein Unterricht gemeint ist, bei dem sich die Lehrkraft mit wenigen unterhält und die meisten Schüler passiv bleiben. Aber, wie gesagt, auch alternative Unterrichtsformen garantieren nicht, dass alle aktiv am Lerninhalt arbeiten. Frontalunterricht ist nicht immer falsch und Reformpädagogik ist nicht immer richtig. Es braucht beides und hat beides seine Berechtigung, übrigens auf allen Bildungsstufen von der Kita bis zur Hochschule. Lehrkräfte müssen beides können, sie brauchen ein breites Methodenrepertoire, wenn sie die Persönlichkeit stärken und zugleich Wissen und Fähigkeiten systematisch vermitteln wollen. Leider wird das oft gegeneinander ausgespielt.

Also sollten Experimente ebenso zur Schule gehören wie klassischer Unterricht?

Die Forschung sagt, dass wir durchaus Experimente und Aktivitäten in der Natur brauchen – auch in der Schule. Aber nur staunend davorstehen, reicht nicht. Die dabei gesammelten Erfahrungen kann man erst dann als Wissen begreifen, verstehen und anwenden, wenn darüber auch systematisch nachgedacht wird. Dafür brauchen Pädagogen viel fachliches, didaktisches und pädagogisches Know-how. Nur dann können sie beim Experimentieren, Beobachten und Reflektieren angemessene Fragen stellen und Hilfen geben. Diese pädagogischen Aufgaben scheinen mir in Gefahr, wenn man aus der Ganzheitlichkeit eine Ideologie macht.

Inwiefern?

Lernen mit Kopf, Herz und Hand ist ein uraltes pädagogisches Prinzip und das klingt toll. Für die Persönlichkeitsreifung und die Mündigkeit von Jugendlichen ist es sehr wichtig, aber das Problem ist: Wer auf ein ganzheitliches Konzept setzt, lässt oft außer Acht, dass Bildungs- und Erziehungsprozesse eine Strukturierung brauchen. Diese Strukturierung soll das Kind nicht überwältigen, sondern Voraussetzungen schaffen für die Vermittlung von hochkomplexen Fähigkeiten und Wissensstrukturen.

Das Wort Ganzheitlichkeit verschleiert leider den Blick darauf, was systematische Förderung bedeutet. Das muss man aber wissen und berücksichtigen, wenn man beispielsweise kleinen Kindern vermitteln will, wie Natur funktioniert. Zum spielerischen Erfahren gehört immer auch Reflexion. Guter Unterricht gibt den Kindern Freiheit, ist aufmerksam für individuelle Bedürfnisse und ermöglicht zugleich systematische Entwicklung.

Was wollen eigentlich die Schüler lieber: Frontalunterricht oder ganzheitliches Lernen?
Schüler denken interessanterweise eher traditionell. Sie wollen Lehrer, die gut erklären, die klare Vorgaben machen und ihnen Sicherheit bieten. In einem Unterricht, in dem sie nicht wissen, was ihre Aufgabe ist, fühlen sie sich schnell überfordert oder aber gelangweilt. Daher sollte man bei jeglichen Reformen unbedingt die Schüler mitnehmen.

In der Kita findet das ganzheitliche Lernen mit allen Sinnen viel stärker statt als an Schulen – warum gibt es beim Übergang vom Kindergarten zur Grundschule diesen starken Bruch?

Solche Brüche finden wir im Bildungssystem immer wieder. Zuerst beim Übergang von der Kita zur Schule, dann beim Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule und erneut, wenn es in der Berufsbildung oder an einer Hochschule weitergeht. Das hat natürlich seine Gründe und hängt v.a. davon ab, was Lernen und Lehren in den jeweiligen Bildungsstufen bedeutet. In Kitas überwiegt noch die situationsbezogene Pädagogik mit viel Freiraum für die Entwicklung der Kinder. In der Schule geht es dann darum, einen Lehrplan umzusetzen. Da müssen bestimmte Inhalte vermittelt werden, dafür braucht es eine andere Pädagogik.

Also wird es diesen Bruch auch in Zukunft geben?

Nicht unbedingt. Eigentlich wäre es wünschenswert, wenn sich Kita und Schule ein wenig annähern, beispielsweise durch eine engere Kooperation zwischen Kita und Grundschule. Lehrkräfte sollten nicht nur den Lehrplan im Kopf haben, sondern auch auf Werte und Haltungen, soziale und emotionale Prozesse achten. Bei den Erziehern beobachten wir leider immer noch Zurückhaltung, sich auch als Lehrende, als Vermittler von Bildung zu verstehen. Einige empfinden es bereits als Zumutung, wenn sie bestimmte Fähigkeiten bei Kindern gezielt fördern sollen. Diese Einstellung halte ich für problematisch, weil sie Kindern eine wichtige Entwicklungschance nimmt. Es braucht auch schon in der Kita eine systematische Förderung kognitiver Fähigkeiten und soziales Training. An dieser Stelle ist ein Umdenken vieler Erzieher nötig. Sie müssen sich zunehmend als Bildungsexperten verstehen.

Werden denn die Pädagogen dafür gut qualifiziert?

Ich denke, sie bekommen das immer besser vermittelt. Die Erzieherausbildung ist in den vergangenen Jahren besser und professioneller geworden. Das heißt nicht, dass sie akademisiert werden muss. Auch die Lehrerausbildung wurde in den letzten 20 Jahren verbessert. Sie orientiert sich jetzt stärker an der beruflichen Praxis.

Wollen die angehenden Lehrer überhaupt weg von traditionellen Unterrichtsformen wie dem Frontalunterricht?

Interessanterweise gibt es einen merkwürdigen Bruch zwischen dem eigenen Anspruch und der Praxis. In der Theorie wollen fast alle Studierenden reformpädagogische Ideen umsetzen und kindgemäß unterrichten. Keiner möchte der klassische Lehrer mit Zeigestock sein. Die Akzeptanz für reformpädagogische Ansätze ist also sehr hoch. Wenn die jungen Lehrer dann aber vor der Schulklasse stehen, wissen sie nicht, wie sie ganzheitliche Ansätze in der Praxis umsetzen sollen. Sie fallen dann wieder in jene traditionellen Muster zurück, die sie selbst als Schüler erlebt haben. Ein Beispiel: Gruppenarbeit wird meistens stark vom Lehrer dirigiert, anstatt die Schüler vorher gut zu instruieren und sich dann selbst organisieren zu lassen.

Wie ließe sich das ändern?
In der Lehrerausbildung müsste man sich noch mehr mit konkreten Lernsituationen auseinandersetzen. Es gibt z.B. Methoden, wo die Studierenden über Videoaufzeichnungen trainieren oder beim sogenannten Micro-Teaching in Lehrwerkstätten Methoden wie die Gruppenarbeit praktisch erproben können. Das bietet die Chance, dass die künftigen Lehrer üben, wie sie den Schülern einerseits Freiraum bieten können, aber andererseits auch klare Orientierung für Nachdenken und Erkenntnisgewinn.

Welche Rolle spielt ganzheitliches Lernen in anderen Ländern?

Es gibt weltweit eine Bewegung, wegzukommen von traditionellen pädagogischen Formen. Die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen wird gleichberechtigter, sie ist mehr geprägt von Anerkennung und Wertschätzung. Selbst in ostasiatischen Ländern, die ja berühmt-berüchtigt sind für ihren starken Leistungsdruck, lässt sich dieser Trend beobachten. Auch in Entwicklungsländern – als Beispiel sei Kolumbien genannt – wird verstärkt darauf geachtet, viel mit ganzheitlichen Konzepten zu arbeiten und Fragen der Persönlichkeitsentwicklung ernst zu nehmen. Das ist allerdings ein sehr langsamer Prozess. Diese Veränderungen werden nicht von heute auf morgen stattfinden, oft klaffen Wunsch und Wirklichkeit noch weit auseinander. Länder wie Australien oder Finnland und Norwegen sind da bereits weiter.

Was können wir uns von ihnen abschauen?

Ich glaube nicht, dass reines Nachahmen funktionieren wird, da pädagogisches Handeln stark in kulturelle Traditionen eingebunden ist. Das lässt sich nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. Aber wir können uns sehr wohl anregen lassen und schauen, was wir wie übernehmen und weiterentwickeln können. Das hat beispielsweise schon einmal gut funktioniert beim Thema Evaluation.

Sie spielen auf PISA an?

Ja, aber auch Vergleichsarbeiten oder Sprachförderdiagnostik gehören dazu. So etwas gab es vor 25 Jahren in Deutschland nicht. Das haben wir von den angelsächsischen Ländern übernommen, aber viel vorsichtiger dosiert. Ich glaube, unserem Bildungssystem täte noch etwas mehr Evaluation und Transparenz gut. Das haben wir erlebt beim Wechsel von G9 auf G8 und wieder zurück. Das war ein wildes Experimentieren ohne systematische Evaluation und Begleitung. Wie muss ich eine G8-Schule gestalten, damit sie angenommen wird? Genau den gleichen Fehler machen wir derzeit wieder bei der Diskussion, ob das Hort- oder das Ganztagsschulsystem besser ist. Jeder macht sein eigenes Ding, aber keiner untersucht systematisch, was für die Kinder besser ist. Evaluation ist wichtig für das Verstehen von Lernschwierigkeiten und die Begleitung von Schulentwicklung.

In den USA gibt es ein Konzept, in dem Schulen ohne Wände und Schulbücher auskommen. Wie sieht es Ihrer Meinung nach 2030 an deutschen Schulen aus?

Ich hoffe, dass wir im Jahr 2030 im pädagogischen Alltag dort, wo es sinnvoll ist, mehr mit elektronischen Tools arbeiten können, dass wir flexibler sind, dass der 45-Minuten-Unterricht im festen Klassenverband seltener wird. Dafür bedarf es vieler Voraussetzungen wie Evaluationen, Lehrerbildung und der passenden Räumlichkeiten.

Aber Schulbücher wird es noch geben?

Schulbücher wird es hoffentlich noch viele Jahrzehnte geben.

Vielen Dank für das Gespräch.